38. Jahrgang · 8,50 € HHK Ausgabe 5/2022 ISSN 0933-3355 www.hardthoehenkurier.de FÜR EIN STARKES EUROPA Das Heer baut um Mittlere Kräfte vor dem Start Ausrichtung auf Einsatzbereitschaft Interview mit GenLt Mais Ein halbes Jahr im Amt: Interview mit GenLt Sollfrank Thales stärkt Marine-Kompetenz in Deutschland Das BAIUDBw feiert zehnjähriges BestehenDIE RICHTIGE WAHL FÜR DEUTSCHLAND Der H-47 Chinook steht schon heute als risikoarme und zuverlässige Lösung für Deutschlands Schwerlast- Missionen bereit. Über 6 Millionen absolvierte Flugstunden und mehr als 950 Chinooks im weltweiten Einsatz belegen seine Erschwinglichkeit und unerreichte Einsatzvielfalt. Der Chinook kann unter den härtesten Bedingungen und in den anspruchsvollsten Umgebungen fliegen und somit auch die herausforderndsten Missionen der deutschen Bundeswehr problemlos erfüllen. Ein weiterer Vorteil ist die hohe Interoperabilität mit den insgesamt 20 internationalen Betreibern, darunter 8 NATO Nationen, bei denen der Chinook weltweit im Einsatz ist. The Boeing Company @BoeingDACH boeing.de/chinook3 Editorial Bloß nichts ändern Beim Blick auf die deutsche Rüstungsbeschaffung könnte man leicht zum Schluss kommen, dass kein brutaler Abnutzungskrieg mitten in Europa zwi- schen dem russischen Aggressor und der Ukraine stattfindet. Denn ungeachtet der Bedrohung für das NATO-Bündnisgebiet halten Politik und Bürokratie hierzulande unerbittlich an der gemütlichen deut- schen Beschaffungspraxis fest. Obwohl mittlerweile deutschlandweit Konsens herr- schen dürfte, dass mindestens das Heer „blank“ da- steht, wird kurzfristig wenig bis nichts getan, um dies zu ändern. So hätte schon kurz nach dem 24. Februar und der Ankündigung des Sondervermögens für die Bundeswehr eine umfangreiche Beschaffung von Munition eingeleitet werden können. Denn es ist hinlänglich bekannt, wie schlecht es um die vorhan- denen Bestände bestellt ist. Beauftragt wurde jedoch nichts. Man wartet lieber, bis die Preise aufgrund der galoppierenden Inflation für Rohstoffe und Vorpro- dukte deutlich gestiegen sind, um dann erheblich weniger für das gleiche Geld zu bekommen. Wenn dies denn überhaupt im gewünschten Maße möglich ist, weil auch andere Staaten Munition bestellen und damit knappe Produktionskapazitäten auslasten. Gleichzeitig verfolgt die Regierung das ambitionierte Ziel, Deutschland zum europäischen Vorreiter in Sachen Luftverteidigung und Flugkörperabwehr zu machen und hat bereits 14 Partner für die Initiative „European Sky Shield“ gewinnen können. Während die Abwehr von Interkontinentalraketen vom israe- lischen System Arrow 3 bereits ab 2025 sichergestellt werden soll, lässt man sich mit der Einführung des in weiten Teilen marktreifen Nah- und Nächstbereichs- schutzes (NNbS) jedoch bis in die zweite Hälfte die- ser Dekade Zeit. Obwohl unterhalb des Systems Pat- riot eine riesige Fähigkeitslücke klafft, die eigentlich sofort geschlossen werden müsste. Denn das Beispiel Ukraine zeigt, was es heißt, wenn Militär und Zivi- listen den Angriffen russischer Kurzstreckenraketen und Marschflugkörper schutzlos ausgeliefert sind. Ein wesentlicher Bestandteil von NNbS, das System IRIS-T SLM, das jüngst in die Ukraine geliefert wor- den ist, könnte dabei sofort beschafft werden. Das würde aber bedeuten, dass man auf die „große Goldrandlösung“ in ferner Zukunft verzichten müss- te, zugunsten einer Sofortbeschaffung und eines sukzessiven Fähigkeitsaufbaus. Ein Ding der Unmög- lichkeit. Neben diesen enttäuschenden Entwicklungen gibt es allerdings auch so etwas wie Hoffnung: Der 100-Milliarden-Fonds hat dem Projekt Digitalisie- rung landbasierter Operationen (D-LBO) neues Le- ben eingehaucht. Läuft alles nach Plan, können das Heer und weitere Teilstreitkräfte bald ihre Funkge- räte aus der Kommunikationssteinzeit verschrotten und auf digitale Technik umsteigen. Möglich wird dies jedoch nur, weil das Projekt schon vor vielen Jahren den ersten Impuls erhielt. Ihr Lars Hoffmann, stellvertretender Chefredakteur40 Volles Haus beim Marineworkshop in Linstow 58 Zehn Jahre Bundesamt für Infrastruktur, Umweltschutz und Dienstleistungen der Bundeswehr, Interview mit Ulrike Hauröder-Strüning, 65 DWT-Tagung „Nachhaltige Energieträger für militärische Mobilität und Infrastruktur“ NATO/EU 24 Alliierte Luftstreitkräfte werden durch NATO-Stab in Ramstein geführt 54 NATO und EU: Beide Pfeiler unserer Sicherheit werden in Ulm eng verbunden, Interview mit Generalleutnant Alexander Sollfrank IT der Bundeswehr 68 BWI – Rückblick 73 Digitalisierung landbasierter Operationen auf der Ziellinie Inserentenverzeichnis: Airbus S.A.S. .....................................................Seite 19 AUTOFLUG GmbH ...........................................Seite 25 Boeing ..............................................................Seite U2 BWI GmbH ......................................................Seite 77 Damen Naval Germany GmbH .......................Seite 41 Deutscher BundeswehrVerband e.V. ............Seite 7 Dynamit Nobel Defence GmbH ......................Seite 15 HIL Heeresinstandsetzungslogistik GmbH .....Seite 17 Krauss-Maffei Wegmann GmbH & Co. KG ....Seite U3 Materna Information & Communcations SE ..Seite 69 MBDA Deutschland GmbH .............................Seite U4 Mittler-Books ...................................................Seite 79 MEN Metallwerk Elisenhütte GmbH ..............Seite 63 National Air Cargo (Deutschland) GmbH ......Seite 27 Northrop Grumman LITEF GmbH ...................Seite 29 roda computer GmbH ....................................Seite 85 secunet Service GmbH ....................................Seite 81 Secusmart GmbH .............................................Seite 83 SZENARIS GmbH ..............................................Seite 73 Politik 6 Bundeswehrtagung 2022 ganz im Zeichen des Ukrainekrieges 8 Wo laufen sie denn? Mit Startnummer Eins – der Nationale Sicherheitsrat 10 Trauriges Jubiläum – ein Jahr des (Ver-)Schweigens Lambrecht gibt keine Infos zum Führungspersonal 11 Vorschau auf die Berlin Security Conference (BSC) Bundeswehr 12 „All in!“ Interview mit Generalleutnant Alfons Mais, Inspekteur des Heeres 18 „Die Sicherheit Litauens ist die Sicherheit Deutschlands“ Lambrecht stellt Kernelement deutscher Brigade für Litauen in Dienst 20 Nachgefragt bei… Brigadegeneral Christian Nawrat, Kommandeur Panzergrenadierbrigade 41 „Vorpommern“ 28 Die Wahrnehmung der Dimensionsverantwortung Luft und Weltraum im Militärischen Nachrichtenwesen 36 Heeresflieger nach Mali-Einsatz mit Fahnenband „Einsatz“ geehrt 37 Präventivkonzept für Resilienz bei spezialisierten Kräften der Bundeswehr und Spezialkräften der Polizei 3 Editorial Inhalt 5/2022 ©DLR Eine Leidenschaft, zwei Partner – Seite 31 ©BW/ Christian Timmig Rapid Pacific 2022 – Seite 2274 dtec.bw – RIVA – Rechtskonforme IT-Konzepte und -Lösungen für Verbünde autonomer Land-, Wasser- und Luftfahrzeuge 76 Interview mit den drei Professoren des Projektes RIVA an der HSU/UniBw H 79 roda computer GmbH – Digitalisierte Lagebearbeitung robust und hochmobil 80 BWI-Kolumne: Digitalisierung für die Schießausbildung der Bundeswehr Wehrtechnik 34 LITEF – Synergien im Blick: Inertiale Technologien bereichsübergreifend weiterentwickelt 47 SZENARIS – Augmented oder Assisted Reality: In jeder Situation kontextbezogene Informationen verfügbar 48 THALES – Gegenseitiges Vertrauen Thales Deutschland als langjähriger Partner der Deutschen Marine 49 THALES – F126: Höchste Anforderungen an die interne und externe Kommunikation BWI – #ITfürDE – Seite 66 Inhalt 5/2022 50 Nachgefragt bei… Sven Roos, Program Manager F126 InfoÜSys bei Thales Deutschland 52 SAAB – Saab-Docksta – Einsatzboote aus einer Familie für unterschiedliche Zwecke 70 aerodata – Aus Braunschweig in die Welt Aerodata bietet maßgeschneiderte Lösungen aus einer Hand 84 Bodengebundene Luftverteidigung für die Bundeswehr NNbS-Partner betonen Interoperabilität und Aufwuchsfähigkeit ihres Ansatzes ©Lindhorst ©Bw/Jonas Weber Bundeswehr und Umweltschutz – Seite 60 News 82 TÜV Rheinland – Warum Sie ein Führungskräftefeedback nutzen sollten 86 Jugendforum: Sicherheitspolitische Zusammenhänge besser verstehen Service 35 Impressum 88 Bücher 90 Themenvorschau 6/2022 38. Jahrgang · 8,50 € HHK Ausgabe 5/2022 ISSN 0933-3355 www.hardthoehenkurier.de FÜR EIN STARKES EUROPA Das Heer baut um Mittlere Kräfte vor dem Start Ausrichtung auf Einsatzbereitschaft Interview mit GenLt MaisEin halbes Jahr im Amt: Interview mit GenLt SollfrankThales stärkt Marine-Kompetenz in Deutschland Das BAIUDBw feiert zehnjähriges Bestehen ©KMW, ©Bw/Maximilian Schulz, ©Bw/Gina Seegert, ©Thales/Pitt Marx, ©BAIUDBw/Anja Viering-Kamp RENK – Neues Antriebssystem für F126 – Seite 42 Das Heer richtet sich verstärkt auf die Landes- und Bündnisverteidigung aus. Erstmals werden dafür Mittlere Kräfte mit Radpanzern aufgestellt. ©RENK GmbH6HHK 5/2022 Politik Mitglied der NATO sind – neben der Ukraine also beispielsweise auch Moldawien oder Georgien – nicht auf direkten militärischen Beistand Deutsch- lands hoffen können. Angesichts der „dramatischen Verschiebung der Sicherheitsarchitektur in Europa“, so der Regie- rungschef, sei die Landes- und Bündnisverteidigung fortan der absolute Kernauftrag der Bundeswehr. Unter Bezugnahme auf seine Zeitenwende-Rede im Bundestag drei Tage nach Beginn des russischen Angriffskrieges betonte er, dass diese Zeitenwende mehr sei als Geld und Material für die Streitkräfte, sondern vor allem einen Wandel im Denken von Politik, Bundeswehr und Gesellschaft bewirkt habe. An die Adresse des Führungspersonals der Bundes- wehr gerichtet forderte der Kanzler, dass das Pri- mat der Landes- und Bündnisverteidigung „auch Ihr Denken und Handeln als militärische Vorgesetz- te“ bestimmen solle. Verteidigungsministerin Christine Lambrecht sagte in diesem Zusammenhang: „Zeitenwende ist jedoch – parallel zu allem anderen – eine Frage der inneren Einstellung. Sie muss dort stattfinden, wo wir uns mit Veränderungen häufig sehr schwertun: in den Köp- fen.“ Auch der Generalinspekteur der Bundeswehr, General Eberhard Zorn, betonte in seiner Ansprache: „Wir müssen das Mindset Landes- und Bündnisver- teidigung auf allen Ebenen durchgängig leben.“ Deutsche Führungsrolle Als bevölkerungsreichste Nation mit der größten Wirtschaftskraft und als großflächiges Land in der Mitte des Kontinentes, so Kanzler Scholz, sei „Deutschland bereit, an führender Stelle Verant- wortung zu übernehmen für die Sicherheit unse- res Kontinentes.“ Deshalb müsse die Bundeswehr zum „Grundpfeiler konventioneller Verteidigung in Europa“ werden, zur „am besten ausgestatteten Streitkraft in Europa“, forderte der SPD-Politiker. Seine Parteifreundin Lambrecht bezeichnete die Beschaffung von Ausrüstung als den entscheiden- den Faktor für die Einsatzbereitschaft der Trup- pe. „Genau hier haben wir angesetzt und bereits wichtige Weichen gestellt.“ Konkret sei mit dem Bundeswehrbeschaffungsbeschleunigungsgesetz ein umfassendes Maßnahmenpaket auf den Weg gebracht worden. Doch was Deutschland zunächst brauche, so die zuständige Ministerin, sei eine Bun- deswehr, die in der Lage sei, Einheiten und Verbän- de kurzfristig verlegen zu können. Vor dem Hintergrund des Sondervermögens für die Bundeswehr von 100 Milliarden Euro erklärte Mitte September war es in Berlin wieder so weit: Die jährliche Bundeswehrtagung mit rund 400 hochgestellten Teilnehmern aus Verteidigungsmi- nisterium, Streitkräften und externen Einrichtun- gen hat stattgefunden – diesmal ganz im Zeichen des russischen Großangriffs auf die Ukraine. Des- halb lautete der Titel der diesjährigen zweitägigen Veranstaltung: „Die Bundeswehr in der Zeitenwen- de – eine kritische Bestandsaufnahme in Zeiten des Krieges in Europa.“ Bundeskanzler Olaf Scholz begann seine Anspra- che mit dem Satz: „Klartext wollen Sie heute von mir hören.“ Deshalb machte er unmissverständlich deutlich: „Wir werden jeden Quadratmeter des Bündnisgebietes verteidigen.“ Dies bedeutet im Umkehrschluss natürlich, dass Staaten, die nicht Bundeswehrtagung 2022 ganz im Zeichen des Ukrainekrieges Von Gerd Portugall Bundeskanzler Olaf Scholz bei seiner Rede auf der Bundeswehrtagung 2022 ©BReg/Bergmann Generalinspekteur Eberhard Zorn: „Wir müssen das Mindset Landes- und Bündnisverteidigung auf allen Ebenen durchgängig leben.“ ©Bw/Torsten KraatzPolitik se Lieferungen die Bundeswehr nicht schwächten. Weiter zeigte sie sich zuversichtlich, dass im Zuge des Ringtausches mit Griechenland 40 Schützenpan- zer BMP-1 sowjetischer Bauart an die Ukraine und dafür 40 Schützenpanzer Marder aus deutschen Industriebeständen an den NATO-Verbündeten in der Ägäis gehen würden. Am Ende der Tagung konstatierte die Ministerin sichtlich zufrieden: „Es ist uns gelungen, den Begriff ‚Zeiten- wende‘ durchzudeklinieren.“ General Zorn: „Es ist nun an uns, für die Truppe ge- eignete Rahmenbedingungen zu schaffen, Prozesse und Strukturen zu überprüfen und anzupassen und radikal Bürokratiehemmnisse und eigene, selbstge- machte Regeln abzubauen.“ Die größte gemein- same Aufgabe der Bundeswehr sei, die personelle wie materielle Einsatzbereitschaft der Streitkräfte zu verbessern. Die gesamte Bundeswehr, so der Generalinspekteur, müsse „kaltstartfähig“ werden: Kaltstartfähigkeit bedeute voll ausgebildetes, ein- satzbereites Personal inklusive einer starken Reser- ve. Kaltstartfähigkeit bedeute zudem materielle Vollausstattung inklusive Munition, Ersatzteilen und Verbrauchsgütern im großen Umfang. Umfangreiche Waffenlieferungen Wegen des Ukrainekrieges, so der Bundeskanz- ler, habe die deutsche Politik mit ihrer bisherigen Staatspraxis bei Waffenlieferungen gebrochen. Scholz sei dankbar, dass die Bundeswehr dafür auch auf ihre knappen Bestände zurückgegriffen habe, wo immer das vertretbar gewesen sei. Bei der Bundeswehrtagung verkündete Ministerin Lambrecht die Lieferung von zwei weiteren Mehr- fachraketenwerfern vom Typ MARS II (inklusive 200 Raketen und Ausbildung durch die Bundeswehr) sowie von 50 Allschutz-Transportfahrzeugen vom Typ Dingo. Die SPD-Politikerin versicherte, dass die- Ministerin Lambrecht kündigte weitere Waffenlieferungen an die Ukraine an. ©Bw/Torsten Kraatz Wer viel gibt, kann viel verlangen! Wir tun es – für Sie! WIR SIND ÜBERALL. Statusübergreifend, in ganz Deutschland und überall dort, wo Bundeswehr ist. WIR LEISTEN ETWAS. Umfassende Information, Rechtsschutz, Diensthaft- pflichtversicherung u.v.m. WIR ERREICHEN ETWAS. Bessere Bezahlung, bessere Karrieremöglichkeiten, bessere Vereinbarkeit von Familie und Dienst. WIR HABEN VIEL ZU BIETEN. Geldvorteile durch tolle Angebote, Zusammenhalt durch Gemeinschaft. WIR SIND MEHR ALS EINE INTERESSENVERTRETUNG. Wir sind eine starke Gemeinschaft für alle Menschen der Bundeswehr: aktive und ehemalige Soldaten, Zivilbeschäftigte Werden Sie Mitglied! www.dbwv.de Tel.: 030 259260-0 /DeutscherBundeswehrVerband Die DBwV APP Deutscher BundeswehrVerband8HHK 5/2022 Wo laufen sie denn hin? Auch ohne Fernglas un- schwer zu erkennen: Die Pferde haben die Startbox noch nicht verlassen. Eines mangels Zaumzeugs und Reiter, das nächste mit abgedeckten Augen. Zwei Rosse tänzeln, eines wagt sich vor bis an die Holz- klappe. Derweil schreitet der Rennleiter die Bahn mit dem Schild „Wer hat die Startglocke?“ ab. Unruhe macht sich breit. Fast zum Greifen nah weht die Ziel- flagge Strategiefähigkeit im rauer werdenden Wind. Startnummer Zwei mit Namen Nationale Sicherheits- strategie gilt als Favorit für dieses Herbst-Derby. Nummer Eins, das auf Nationaler Sicherheitsrat hört, wird als Außenseiter gehandelt. Wann das Feld star- tet, ist einstweilen ungewiss. Die Frage sei erlaubt Tatsächlich wirft das Krisenmanagement der Bundes- regierung die grundsätzliche Frage auf: Wer startet wann in welcher Reihenfolge? Muss nicht die Schaf- fung eines Nationalen Sicherheitsrates vor der Erar- beitung einer Nationalen Sicherheitsstrategie stehen? Gebieten dies nicht Logik und sicherheitspolitische Notwendigkeiten? Die Mehrheit anderer Staaten hat diesen Ablauf gewählt. Und ist das Starterfeld – Regie- rung, Politik und Gesellschaft – gewahr, dass es einem Galopprennen gewachsen sein muss? Hat sich überdies endlich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Schnelligkeit vor allem eine Frage von Organisation, Handlungsbe- fugnissen und funktionierender Zusammenarbeit ist? Und schließlich: Welches Pferd ist vielseitig genug, um die Rennen der Zukunft zu bestimmen? Startnummer Eins und Zwei könnten auch eine Wei- le auf gleicher Höhe laufen oder das Ziel zeitgleich erreichen. Auf der Rennbahn wäre das ein recht un- wahrscheinlicher Fall. In Deutschland könnte er den- noch eintreten, weil die Strategie-Vorarbeiten unter Federführung des Auswärtigen Amtes bereits begon- nen haben. Startnummer Zwei schickt sich also an, die Box zuerst zu verlassen. Für verfrühte Starts droht allerdings Disqualifikation. Bei der Ausformulierung einer Nationalen Sicherheitsstrategie sogar Scheitern, wenn handwerkliche Fehler gemacht werden, weil der passende institutionelle Rahmen fehlt. Doch zurück zum Renngeschehen: Nie wartet der Champion auf den Zweitplatzierten. Sollte der Au- ßenseiter überholen, wird auch er in der Regel nicht anhalten, um die Nummer Zwei aufschließen zu las- sen. Denn es kann nur einen Sieger geben. Dieser ver- fügt in der Regel über Schnelligkeit, Kraft und Aus- dauer gleichermaßen. Ein Pferd in solcher Topform, sei es auch Außenseiter, von vornherein und ohne eingehende Betrachtung gewollt verlieren zu lassen, schmeckt nach Wettbetrug. Wo laufen sie denn? Mit Startnummer Eins – der Nationale Sicherheitsrat Von Christina Moritz, Politologin Das Kanzleramt könnte eine wesentliche Rolle beim Aufbau eines Nationalen Sicherheitsrates übernehmen. ©Tischbeinahe/Creative Commons 3.0HHK 5/2022 Politik Erkenntnisse zu wahrscheinlichen Krisenverläufen einschließlich der daraus abgeleiteten Maßnahmen- empfehlungen ungenutzt in der sprichwörtlichen Schublade. Auch wenn jetzt Bausteine für eine ge- samtstaatliche Sicherheitsstrategie zusammengesucht werden, ist ein grundlegender Fehler im System nicht behoben: das Fehlen einer Sicherheitsinstitution, die in jeder Situation und kontinuierlich so weitreichend wie möglich analysieren, dazu alle zivilen und militäri- schen Kräfte bündeln, operative Maßnahmen steuern und strategische Impulse geben kann. Eine Nationale Sicherheitsstrategie, so gut sie auch sein mag, kann stets nur eine Momentaufnahme sein. Zu- mal in einem globalen Kontext, der sich andauernd ra- sant wandelt. Der nächste Schwarze Schwan, also das nächste völlig überraschende Ereignis, kann jederzeit auftauchen. Umso besser muss die Vorbereitung dar- auf werden. Deshalb sollte ein Nationaler Sicherheitsrat nicht nur am Beginn eines jeden Strategiebildungspro- zesses stehen, sondern diesen auch künftig kontinuier- lich rund um die Uhr begleiten. Es ist an der Zeit, sich gründlicher mit Startnummer Eins zu befassen. Strategiefähigkeit – die institutionellen Komponenten Zu dauerhafter Strategiefähigkeit Deutschlands be- darf es weit mehr als in unregelmäßigen Abständen aufgelegter Weißbücher. Längst sind neue Bedrohun- gen wie Pandemien, Klimakatastrophen und existen- zielle Bedrohungen infolge des Angriffs auf die Uk- raine auf den Plan getreten. Daher braucht es zwei institutionelle Komponenten, um ein Höchstmaß an Strategiefähigkeit zu erreichen: Verstetigung und Fle- xibilität. Das klingt zunächst unvereinbar, macht aber gerade die Nasenlänge vorn aus. Verstetigung institutioneller Strukturen und Verfah- ren schafft Verlässlichkeit und verringert Fehlerwahr- scheinlichkeiten. Ein regelmäßig tagender Sicher- heitsrat darf aber keinem starren Zeitschema folgen oder sich auf einen bisherigen Kreis von Akteuren beschränken. Sitzungsfrequenz und Teilnehmerzahl sollten der Lage angepasst sein. Idealiter tagt er in Krisen öfter mit weniger Ressorts. Sein permanenter organisatorischer Unterbau, die externe Analyseein- heit, sollte zudem flexible Elemente wie fachorien- tierte, schnell einberufene und auflösbare Cluster mit Fachleuten von außen integrieren. Wenn dies gelingt, ist klar, dass der Nationale Sicherheitsrat als Erster durch das Ziel geht. hbeinahe/Creative Commons 3.0 In den USA fungiert der National Security Council als wichtiges Beratergremium des Präsidenten. Alles könnte so einfach sein Warum also nicht statt eines Energie-, Wirtschafts-, Verteidigungs- und Corona-Krisenstabes gleich ei- nen Nationalen Sicherheitsrat im Bundeskanzleramt einrichten, der mehr Handlungs- und Strategiefä- higkeit sowie Durchhaltevermögen garantiert? Der Angriffskrieg auf die Ukraine dürfte auch basierend auf der Annahme geplant worden sein, Deutschland und seine internationalen Partner würden nach be- kannten Mustern reagieren. Einigkeit und schnelles Handeln von Staaten weltweit kamen bei dieser Betrachtung – zum Glück für die Ukraine – über- raschend. Zur Koordinierung der Unterstützungs- maßnahmen bedienten sich die meisten von ihnen jedenfalls eines Nationalen Sicherheitsrates. Bei der Einschätzung der Bundesrepublik mag der Angrei- fer Verharren in alten Strukturen, womöglich auch Zögern vorausgesetzt haben. Doch was hindert die Bundesregierung, davon abzuweichen? Wissen über die Mechanismen der Krisenbewältigung ist reichlich vorhanden. Eine wehrhafte Gesellschaft, in der die Menschen globale Zusammenhänge erken- nen und ihr Leben anzupassen beginnen, ebenfalls. Dazu gehören auch die Bundesländer, die angesichts immer neuer Katastrophenlagen an ihre Grenzen sto- ßen. Während sie in größeren Schadenslagen nicht auf schnelle Hilfe des Bundes bauen können, helfen sich viele von ihnen kurzerhand selbst. So etwa Bran- denburg, das, hauptsächlich zum Eigengebrauch, ei- nem Betrieb zentral und dauerhaft die Produktion sämtlicher Schutzausrüstung gegen Corona übertrug. Den Ländern sollte künftig auch eine stärkere Rolle bei der Strategieentwicklung für die gesamte Bundes- republik zukommen. Sie kennen die Gegebenheiten vor Ort am besten und prägen bislang die Qualität von Bevölkerungs- und Katastrophenschutz. Schnelle Umsetzung, große Wirkung Das Modell eines Nationalen Sicherheitsrates mag einfach anmuten. Tatsächlich muss eine solche über- geordnete Institution vieles gleichzeitig und mit dem strategischen Blick in die Zukunft leisten. Der Rat und eine die Sitzungen inhaltlich vorbereiten- de externe Analyseeinheit sind mindestens ebenso schnell aufgestellt wie der letzte Corona-Krisenstab im Kanzleramt, können jedoch aus dem Stand und für die Zeit nach Krisen deutlich größere Wirkung entfalten. Ein Grund mehr, langfristig auf Startnum- mer Eins zu setzen. Hätte die bisherige Sicherheitsarchitektur reibungs- los funktioniert, stünde Deutschland nicht vor der schwersten existenziellen Krise seit Ende des Zwei- ten Weltkrieges. Maßnahmen gegen die COVID- 19-Pandemie müssten nicht weiterhin mühsam mit den Ländern abgestimmt werden. Zwar verfügt jedes der Bundesministerien für seine eigenen The- men über Ernstfall-Szenarien. Diese wurden jedoch noch nie systematisch in einer mehrdimensionalen Gesamtstrategie und einem Nationalen Notfallplan zusammengeführt. Vor allem nicht auf der Grundla- ge des umfassenden Lagebildes, das nur ein Nationa- ler Sicherheitsrat zu generieren vermag. Stattdessen verblieben die in den Ressort-Papieren enthaltenen ©The White HouseNext >