Die Kriegstüchtigkeit der Landstreitkräfte
Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 stellt in vielen Bereichen eine Zäsur dar. Die Bedeutung leistungsfähiger Streitkräfte ist seitdem wieder deutlicher in das Bewusstsein der Menschen und in die öffentliche Diskussion zurückgekehrt. In Anbetracht der Ausrichtung und Fähigkeiten der russischen Streitkräfte wird der Bedarf leistungsfähiger und kriegstüchtiger Streitkräfte im besonderen Maße für die Landstreitkräfte der Bundeswehr und insbesondere des Heeres im Rahmen der Landes- und Bündnisverteidigung deutlich.
Kriegstüchtigkeit per se erfüllt keinen Selbstzweck. Sie garantiert Durchsetzungs-, Überlebens- und Zukunftsfähigkeit. Leitgedanke bleibt ein glaubwürdiges Abschreckungssignal im Schulterschluss mit den NATO-Partnern – Kämpfen können und wollen, um nicht kämpfen zu müssen. Der Begriff der Kriegstüchtigkeit hat in diesem Kontext in der öffentlichen Debatte weit über die Streitkräfte hinaus an Relevanz gewonnen. In den (vorläufigen) Operativen Leitlinien des Heeres vom Oktober 2021 wird Kriegstüchtigkeit wie folgt definiert: „Kriegstüchtigkeit bezeichnet die auf Erkenntnisvermögen beruhende Überzeugung, im Vertrauen auf die eigene Kraft, Stärke, Rüstigkeit und Festigkeit, mit der Gesamtheit der eingesetzten personellen, materiellen, infrastrukturellen, organisatorischen sowie intellektuellen Fähigkeiten auch in den kritischsten Ausprägungen des gemeinsamen Kriegsbildes gegen den erwarteten Gegner erfolgreich zu sein.“
Kriegstüchtigkeit lässt sich in drei Teilaspekte unterteilen:
- den Menschen,
- die einsetzbaren militärischen Fähigkeiten sowie
- ein lage- und zeitgemäßes Kriegsbild.
Der Mensch
Um im Krieg zu bestehen, müssen Soldaten nicht nur ihr Handwerk beherrschen (Können), sondern auch den festen Willen besitzen, dieses einzusetzen (Wollen). Nur in der Gewissheit seiner Fähigkeiten (Vertrauen) und deren Einsatz für die richtige Sache (Glauben) wird er alle Härten bestehen können. Dies beschreibt die erforderliche Haltung und gleichzeitig den Anspruch an das Mindset in Ergänzung zu den militärischen Fähigkeiten.
Heeresentwicklung: Die militärischen Fähigkeiten
Diese sind die Wege und Mittel, die der Mensch im Krieg zur Auftragserfüllung einsetzt. Dafür müssen die Fähigkeiten systemisch und skalierbar verfügbar sein. Quantität und Qualität militärischer Fähigkeiten sowie deren strukturelle Abbildung sind aus dem wahrscheinlichen Kriegsbild abzuleiten, um den Menschen zur Siegfähigkeit im Krieg zu befähigen.
Das Kriegsbild
Ein Kriegsbild kann verstanden werden als „eine Grundvorstellung vom Wesen eines zukünftig möglichen Krieges, d. h. von dessen Erscheinungsform sowie von den Zwecken, den Möglichkeiten, den Mitteln, der Ausdehnung, der Intensität und den Auswirkungen der Kriegführung.“ (Reichenberger, Der gedachte Krieg – Vom Wandel der Kriegsbilder in der Bundeswehr, S. 50; De Gruyter Oldenbourg; Berlin/Boston 2018) Ein Kriegsbild ist in der Regel auf den wahrscheinlichsten Krieg und Gegner bezogen und auf die militärstrategische Ebene ausgerichtet. Eine dimensionsübergreifende, streitkräftegemeinsame Betrachtung bietet sich an. Ein Kriegsbild ist stets prognostischer Natur und damit zumindest in Teilen spekulativ. Zudem bleibt es im Optimalfall der erfolgreichen Abschreckung spekulativ, da ungeprüft.
Für das Militär empfiehlt sich die Formulierung und regelmäßige Fortschreibung eines Kriegsbildes, um an diesem die Streitkräfte ganzheitlich auszurichten. Die Fassung von Kriegsbildern für einzelne Dimensionen, z. B. Land, oder Operationsräume, z. B. Operationsraum Land, ermöglicht dabei die detailliertere Beschreibung künftiger Herausforderungen und deren verständliche Darstellung auch für die operative und taktische Ebene des Gefechts. Synonym kann für diese nachgeordnete Ebene, insbesondere bei stärkerer Eingrenzung, auch von Gefechtsbildern gesprochen werden.
Um Kriegstüchtigkeit überprüfen zu können, müssen daher sowohl die Fertigkeiten der eingesetzten Soldaten als auch die eingesetzten militärischen Fähigkeiten am wahrscheinlichen Kriegsbild oder einem definierten Teilaspekt (z. B. Kriegsbild Operationsraum Land für eine Division deutscher Landstreitkräfte, Gefechtsbild in einer Vignette Verzögerung für eine Panzerbrigade) davon gemessen werden.
Kriegstüchtigkeit von Streitkräften kann nur bestehen, wenn Mensch und Material den wahrscheinlichen Herausforderungen gewachsen sind. Durch den prognostischen Charakter eines Kriegsbildes ist allerdings eine Messbarkeit der Kriegstüchtigkeit nur näherungsweise möglich und wird durch die militärischen Führer auf der jeweiligen Ebene beurteilt. Intensive, möglichst realitätsnahe Ausbildung und Übung mit ehrlicher Leistungsüberprüfung erhöht die Kriegstüchtigkeit und ermöglicht fachliche Bewertungen. Für Wehrmaterial bedeutet dies die frühestmögliche Überprüfung in der Praxis. Die Experimentalserie Land des Amtes für Heeresentwicklung ist dafür ein Beispiel.