Wir müssen das gesamte Höhenspektrum der Luftbedrohung abdecken!

Wir müssen das gesamte Höhenspektrum der Luftbedrohung abdecken! Generalleutnant Lutz Kohlhaus stellte sich den Fragen von Michael Horst. (Foto ©MRV)
Wir müssen das gesamte Höhenspektrum der Luftbedrohung abdecken! – Generalleutnant Lutz Kohlhaus stellte sich den Fragen von Michael Horst. (Foto ©MRV)

Sehr geehrter Herr General, der Generalsekretär der NATO sprach kürzlich von einem notwendigen Quantensprung in der Luftverteidigung. Was bedeutet das für die notwendigen Fähigkeiten der Bundeswehr?

Ich glaube, Quantensprung kann man tatsächlich sagen. An erster Stelle möchte ich hierbei die Einführung einer ersten nationalen Fähigkeit zur territorialen Flugkörperabwehr erwähnen. Wir werden im Spätherbst dieses Jahres das erste von drei Teilsegmenten des Arrow-Waffensystems in Deutschland in Betrieb nehmen. Damit sind wir neben der Fähigkeit, ballistische Raketen bis in den Mittelstreckenbereich außerhalb der Atmosphäre abzufangen, vor allem das erste Mal in der Lage, und das ist ebenfalls ein Quantensprung, eine eigene Frühwarnung vor solchen Raketenangriffen für unsere Bevölkerung und die Streitkräfte zu gewährleisten. Dieser wichtige Fähigkeitsgewinn wird durch das äußerst leistungsfähige Radargerät des Waffensystems ermöglicht.

Darüber hinaus streben wir eine ergänzende satellitengestützte Frühwarnung gegen ballistische Raketen vornehmlich im europäischen Verbund an. Dazu schlägt die Luftwaffe vor, zunächst eine Lösung auf Basis von mindestens zwei geostationären Satelliten zu realisieren und auf weitere Sicht eine noch präzisere Erfassung von Raketenstarts durch eine dann aufwendigere Konstellation mit einer Vielzahl von Satelliten in der erdnahen Umlaufbahn zu ergänzen. Dies ist ein guter Vorschlag zur Stärkung des europäischen Pfeilers in der NATO und zum Schutz unserer Bevölkerung. Auch die bereits entschiedene Wiederaufstellung der Heeresflugabwehr muss in diesem Zusammenhang erwähnt werden. Sie wird im unteren Höhenbereich und im engen Zusammenwirken mit der NATO Integrated Air and Missile Defense (NATINAMDS) den Schutz gegen Luftangriffe für die Heeresverbände an der Ostflanke gewährleisten. Und dies auf einer modernen technologischen Basis mit zeitgemäßer Datenanbindung. Eine wirklich gute Entwicklung!

Daneben kann ich nur begrüßen, dass die künftig wesentlich steigenden Verteidigungsaufwendungen bei allen Bündnispartnern, basierend auf Entscheidungen des letzten NATO-Gipfels, vor allem auch der NATO-Luftverteidigung zugutekommen werden. Denn nur im Verbund einer leistungsfähigen NATINAMDS werden wir in Europa in der Lage sein, eine genügende Schutzleistung gegen die Bedrohung aus der Luft zu erzielen.  

Welche Rolle wird die Luftwaffe künftig beim Einsatz weitreichender Boden-Boden-Präzisionswaffen gemäß der ELSA-Initiative (European Long Range Strike Approach) spielen, und wo sehen Sie hier die Abgrenzung zu den künftigen Fähigkeiten der Raketenartillerie desHeeres?

Der European Long Range Strike Approach zielt auf Einsatzreichweiten ab, die deutlich über den Bereich der Raketenartillerie der Landstreitkräfte hinausreichen. Wir reden hier von Entfernungen über 2.000 Kilometern, um militärische Nervenzentren, wichtige Knotenpunkte der Datenkommunikation und Raketenbasen des Gegners in der Tiefe zu bedrohen. Aus Sicht der Luftverteidigung, auf die ich mich hier beschränken möchte, verweise ich auf die Notwendigkeit, das offensive Luftkriegspotenzial des Gegners dort zu bedrohen, wo es sich befindet, also bevor es zum Einsatz kommt. Wenn das nicht gelingt, werden wir auf der anderen Seite niemals genug Luftverteidigungskräfte besitzen, um uns wirksam gegen alle Luftangriffe zu verteidigen. Nur beides zusammen verspricht Erfolg und einen wirklich ausreichenden Schutz für unsere Bevölkerung.

Im Übrigen, und wir reden sehr viel von Multi-Domain Operations, halte ich eine weitreichende offensive Fähigkeit über Entfernungen von über 2.000 Kilometern für eine streitkräftegemeinsame Aufgabe und eine strategische Fähigkeit unter politischem Einsatzvorbehalt, die nur im Systemverbund aller militärischen Domänen national sowie im Bündnisrahmen erfolgreich zum Einsatz kommen kann.

Wie und mit welchen Waffensystemen kann aus Ihrer Sicht ein optimaler Schutz des Bündnisgebietes erreicht werden?

Spätestens seitdem wir wieder sehen, was die russischen Luftangriffe in der Ukraine im Bereich ziviler Infrastruktur anrichten, ist klar geworden, dass wir das gesamte Höhenspektrum der Luftbedrohung abdecken müssen. Das reicht schon von

  • der Abwehr kleiner Drohnen über die Heeresflugabwehr im unteren Höhenbereich
  • bis zu IRIS-T Medium Range und Patriot mit mittlerer Reichweite und
  • schließlich zum Waffensystem Arrow außerhalb der Atmosphäre.

Wichtig in diesem Zusammenhang ist jedoch ein leistungsfähiger Erfassungs- und Führungsverbund der NATINAMDS, den wir dringend weiter modernisieren und stärken müssen und ohne den die unterschiedlichen Waffensysteme nicht nur der Bundeswehr, sondern auch unserer Bündnispartner nicht effizient geführt und eingesetzt werden können. Hier gibt es noch viele Versäumnisse der vergangenen Jahrzehnte aufzuholen.

Der zweite unerlässliche Bereich für einen optimalen Schutz Deutschlands und des Bündnisgebietes ist eine ausreichende Ausstattung mit Munition, das heißt, mit Lenkflugkörpern. Hier haben wir aktuell, auch durch die bisher geleistete und weiter notwendige Unterstützung der Ukraine, einen Stand erreicht, den wir signifikant und mit Nachdruck wieder auffüllen müssen. Dazu gibt es, wie beispielsweise die Kooperation zwischen der MBDA und Raytheon in Bayern zur Fertigung von Patriot PAC-2 zeigt, erste sehr positive Entwicklungen. Das reicht aber noch nicht. Ich bin zuversichtlich, dass Diehl die Kapazitäten für die Produktion von IRIS-T SL ebenfalls wesentlich erhöht und könnte mir vorstellen, dass vielleicht auch Lockheed Martin gegebenenfalls mit Rheinmetall zu einer Kooperation findet, um Patriot PAC-3-Lenkflugkörper in Europa zu fertigen. Der Bedarf an Lenkflugkörpern wird mit Blick auf die wachsenden Nutzernationen dieser Waffensysteme, nicht zu vergessen die Ukraine, weiter entscheidend steigen. In diesem Rüstungsbereich sehe ich unverändert große Chancen für die durch Deutschland initiierte European Sky Shield Initiative, um die es letztlich etwas ruhig geworden war. Nutzen wir sie.

Die Luftwaffe will langfristig ein zweites Flugabwehrraketengeschwader mit Patriot- und IRIS-T SLM-Feuereinheiten aufstellen. Welchen Zeitraum sehen Sie dafür unter Beschaffungs- und Personalaspekten?

Ein zweites Flugabwehrraketengeschwader ist nicht zuletzt ein durch die NATO geforderter Fähigkeitsaufwuchs, den wir zielgerichtet verfolgen. Wie Sie wissen, ist das Flugabwehrraketengeschwader 1 an den Küsten von Nord- und Ostsee stationiert. Das zweite Flugabwehrraketengeschwader könnte dann vornehmlich mit Rückgriff auf Bestandsinfrastruktur in den 2030er-Jahren in der Mitte oder in Süddeutschland aufgestellt werden. Die wichtigste Voraussetzung sind allerdings nicht die Kasernen oder die Beschaffung der Waffensysteme, sondern die Verfügbarkeit der personellen Ressourcen.

Die Aufstellung eines zweiten Geschwaders mit über 2.000 Angehörigen ist nur möglich, wenn der Personalbestand der Bundeswehr sich insgesamt merklich erhöht. Und in diesem Zusammenhang setzt sich natürlich auch die Luftwaffe dafür ein, dass wir über die Neue Wehrpflicht deutlich mehr junge Leute für die Streitkräfte gewinnen, die dann eine gute Basis für die Binnenwerbung darstellen und sich für eine weitere Karriere in der Luftwaffe entscheiden. Die Luftwaffe hat gute Erfahrungen mit der Weiterverpflichtung von jungen Soldatinnen und Soldaten und wir sind fest davon überzeugt, dass nur so der Personalumfang wirksam erhöht werden kann. Ein zweites Flugabwehrraketengeschwader ist nicht der einzige Bereich, in dem die Luftwaffe und die Bundeswehr ihre Fähigkeiten erweitern werden, aber ohne die entsprechende personelle Erhöhung werden wir hier nicht weiterkommen.

Interview mit Generalleutnant Lutz Kohlhaus, Stellvertreter des Inspekteurs der Luftwaffe

Das komplette Interview lesen Sie in Ausgabe 4/25 des HHK!

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