Recht wenig beachtet, obwohl bald in Medienkreisen zirkulierend, schrieb der Inspekteur des Heeres Anfang des Monats einen Brief zum künftigen Dienstpostenbedarf seiner Teilstreitkraft an seinen Vorgesetzten, Generalinspekteur Carsten Breuer. Wo darüber berichtet wurde, wurde das von Generalleutnant Alfons Mais als „initiativer Input“ mit kameradschaftlichen Grüßen unterzeichnete Schreiben teilweise als Brandbrief deklariert. Das dürfte mehr den aufgeführten hohen Personalzahlen als dem sachlichen Tonfall geschuldet sein. Naheliegend ist, dass General Mais – dessen Lagebeschreibungen seit seinem berühmten LinkedIn-Post zur blank dastehenden Bundeswehr nach dem russischen Angriff auf die Ukraine 2022 nicht unbedingt politische Freude ausgelöst haben – den künftigen Bedarf vor seiner anstehenden frühzeitigen Ablösung noch einmal klar festgehalten wissen wollte. Oder, wie mancher bemerkte: melden macht frei.
Bemerkenswert an dem Schreiben ist weniger die Forderung nach zusätzlichen 45.000 aktiven und 49.000 nicht-aktiven Stellen bis 2029 für das Feldheer und die militärische Grundorganisation. Dies vor dem Hintergrund neuer NATO-Ziele, von Neuem Wehrdienst und kaskadierender Ausbildungserfordernisse. Mit dem inzwischen hinreichend kommunizierten Ziel, die Stärke der Bundeswehr auf einen Friedensumfang von 260.000 und eine Kriegsstärke von 460.000 Soldatinnen und Soldaten anzuheben, dürfte das niemanden überraschen. Bereits bekannt ist auch, dass sieben neue Heeresbrigaden aufgestellt werden sollen. Dass Mais für die deutschen Truppen, die das Bündnis künftig an der NATO-Ostflanke verteidigen sollen, sowie deren Unterstützung durch Führung und Logistik ab 2035 einen Bedarf von nochmal 45.000 aktiven und 15.000 nicht-aktiven Stellen sieht: das lässt sich mutmaßlich aus sorgfältiger Detailplanung ableiten.
Mehr Zahlen
Gegenüber dem jetzigen Stand von 62.000 aktiven Soldaten und 37.000 eingeplanten Reservisten im Heer erscheint die Zielgröße von 152.000 plus 101.000 in zehn Jahren also plausibel. Der eigentliche Klopper ist der Bereich des Heimatschutzes, der bislang mit 500 aktiven und 6.500 nicht-aktiven Dienstposten in den gegenwärtigen Zahlen eingeschlossen ist. Hier spricht der Brief von 138.000 zusätzlichen Stellen bis 2029 – davon 9.500 aktiv – wobei bereits die maximale Unterstützung durch nicht-militärische Leistungen angenommen werde. Und schon erhöht sich die Gesamtstärke des Heeres auf 161.500 plus 229.500, insgesamt also 391.000 Mann und Frau Verteidigungsumfang. Für die traditionelle Landmacht Deutschland ist dieser Anteil von 85 Prozent am angestrebten Verteidigungsumfang der Bundeswehr von 460.000 noch nicht ungewöhnlich.
Allerdings weist das Schreiben auch darauf hin, dass der Bedarf für den Heimatschutz durch weitere Vorgaben wie Raumschutz noch signifikant steigen könnte. Bislang beschränkt sich die Aufgabenstellung ja weitgehend auf den Objektschutz, also die Sicherung örtlicher Einrichtungen. Mehr ist mit den derzeit 42 Heimatschutzkompanien in demnächst sechs Regimentern – deren Zahl laut OPLAN Deutschland irgendwann auf zwölf steigen soll – auch nicht zu leisten. Selbst mit der angestrebten Verdopplung wären die Kräfte dafür eher knapp. Ein Blick in die Aufstellung des westdeutschen Territorialheeres in der Heeresstruktur IV der 1980er Jahre ist da lehrreich, aber nur ausdauernden Lesern zu empfehlen: in der alten Bundesrepublik mit etwa 80 Prozent der heutigen gesamtdeutschen Bevölkerung umfassten dieses allein über 140 Heimatschutzkompanien plus selbstständige Sicherungszüge.

Mehr Blick zurück
Dabei wurden solche Einheiten im grenznahen Raum, wo das Feldheer zur Verteidigung aufmarschiert wäre, gar nicht erst aufgestellt. Für das heutige Deutschland, dessen vorderer Rand der Verteidigung im Baltikum läge, gibt es diese Entschuldigung nicht. Ebenfalls noch nicht eingeschlossen sind die Sicherungs- und Logistikeinheiten des alten Territorialheeres, die im Rahmen des Wartime Host Nation Support den Schutz und die Versorgung von Einrichtungen verbündeter Streitkräfte gewährleistet hätten. Ganz zu schweigen von den 15 Heimatschutzregimentern, die im Rahmen des Raumschutzes wichtige Verkehrsverbindungen wie Brücken und Kanäle gesichert hätten. Und den zwölf Heimatschutzbrigaden, die begrenzt zu mobiler Kriegführung gegen luftgelandete oder durchgebrochene Gegner befähigt waren. Oder der umfangreiche Pionier-, Fernmelde- und Lazarettorganisation.
Insgesamt dienten in den 1980er Jahren bereits im Frieden rund 64.000 Mann im Territorialheer, das allerdings auch die Feldjägertruppe, die sechs Wehrbereichs- sowie nachgeordneten Bezirks- und Kreisverteidigungskommandos einschloss. Im Verteidigungsfall hätten etwa 450.000 den Heimatschutz, Verbindungen aller Art, die Verwundetenversorgung und alle möglichen Aufgaben von der Ersatzausbildung bis zum Kriegsgefangenen- und Gefallenenwesen sichergestellt – fast so viele wie der Friedensumfang der gesamten Bundeswehr. Auch dieses umfassende System entstand allerdings nicht über Nacht. Ursprünglich als Kommando Territoriale Verteidigung eine Art vierte Teilstreitkraft unter nationalem Befehl, ähnelte die erste Struktur der 50er und 60er Jahre mit ihren Logistik-, Pionier-, Fernmelde- und Feldjägerkräften sowie dem Bonner Wach- und dem Andernacher Rundfunkbataillon frappierend der Streitkräftebasis nach der Jahrtausendwende.
Mehr Heimatschutz
Erst nach knapp 15 Jahren personellem und materiellen Aufbau der Bundeswehr trat der Heimatschutz als auch organisatorisch angelegte Aufgabe in Erscheinung. Wie dessen heutige Inkarnation in diesem Jahr wurde die Truppe 1969/70 mit der Heeresstruktur III ins Heer überführt. Vom ursprünglichen Konzept blieb die Unterstellung des neuen Territorialheeres unter nationales Kommando, während der Rest der Bundeswehr aufgrund der besonderen Stellung des geteilten Deutschlands bereits im Frieden der NATO assigniert war. Den sechs Wehrbereichskommandos wurde nun je ein Heimatschutzkommando auf Brigadeebene unterstellt. Deren Mittel für den Raumschutz blieben mit je zwei teilaktiven Jägerregimentern vorerst weiter begrenzt. Diese bestanden jeweils nur aus einem aktiven und einem nicht-aktiven Bataillon, ergänzt von Panzerjäger- und Mörserkompanien als Geräteeinheiten.
In der Stärke ähnelte diese Struktur mit insgesamt zwölf schwachen Regimentern also dem jetzigen Ziel des OPLAN Deutschland. Eine wesentliche Verstärkung erfuhren die Heimatschutzkräfte erst mit der Heeresstruktur IV ab 1980. Das wurde nicht zuletzt dadurch möglich, dass nach 25 Jahren Beschaffung und der Einführung zahlreicher neuer Waffensysteme während der 70er Jahre nun die Abgabe älteren Materials durch das Feldheer in größerem Umfang erfolgen konnte. Die bisherigen Heimatschutzkommandos konnten so zu teilaktiven Brigaden mit jeweils zwei Jäger- und Panzerbataillonen, einem Artilleriebataillon mit 105-mm-Geschützen und Brigadetruppen umgebaut werden. Diese neuen Heimatschutzbrigaden mit Ordnungsnummern der 50er-Serie waren schon eher zum beweglichen Gefecht der verbundenen Waffen befähigt.

Mehr Material
Sie hätten bei Bedarf auch die Großverbände des Feldheeres direkt unterstützen oder ersetzen können. In geringerem Umfang galt das ebenfalls für die sechs nicht-aktiven Brigaden der 60er-Serie, die um ein Panzerbataillon und Teile der Brigadetruppen gekürzt waren. Der Raumschutz wurde Aufgabe der 15 neuen Heimatschutzregimenter der 70er-, 80er- und 90er-Serie, die geeigneten Verteidigungsbezirkskommandos unterstellt wurden. Unterhalb dieser Ebene übernahmen die selbstständigen Heimatschutzkompanien und Sicherungszüge, die in jeweils unterschiedlicher Anzahl den Kreisverteidigungskommandos unterstanden, den Objektschutz. Von einer solchen umfassenden Organisation ist der moderne Heimatschutz der Bundeswehr, nimmt man die Entwicklung zwischen den Heeresstrukturen II und IV als Maßstab, wohl noch mindestens zehn Jahre entfernt – und eher mehr.
In aller Welt haben Territorialstreitkräfte traditionell mit dem auskommen müssen, aus dem die aktive Truppe herausgewachsen war. Zwar hieß es schon im vergangenen Jahr, dass altes Gerät vom G36 bis zum Transportpanzer Fuchs nach Ersatz durch neues Material nicht mehr ausgemustert, sondern für künftige Verwendung den Heimatschutzkräften zugeführt wird. Angesichts des bisherigen Ausstattungsumfangs bleibt aber die verfügbare Masse vorerst begrenzt, auch wegen des altersbedingten Restnutzwertes mancher Systeme. Es hat ja seinen Grund, dass etwa der Waffenträger Wiesel oder der immer noch nicht vollständig abgelöste Schützenpanzer Marder durch neue Lösungen ersetzt werden. Erst die übernächste Beschaffungswelle würde demnach in großem Umfang Material für eine robuste Ausstattung der Heimatschutzkräfte freisetzen.
Mehr neues Denken
Allerdings: vielleicht bietet das auch die Chance, Heimatschutz neu zu denken. In der alten Bundesrepublik als NATO-Frontstaat bedeutete er ja im Wesentlichen die Fortsetzung des konventionellen militärischen Kampfes im rückwärtigen Gebiet. Für die heutige logistische Drehscheibe Deutschland ist das – hoffentlich – zweitrangig gegenüber neuen Bedrohungen. Die schließen zwar wie früher auch Sabotage, Kommandounternehmen und andere mehr oder weniger verdeckte Operationen ein. Aber vermutlich wird etwa die Abwehr von Drohnen wichtiger sein als von Panzern. Und das neu beschaffte Störgerät oder die eigene Drohne wertvoller als der beim Feldheer irgendwann von neueren Versionen abgelöste Leopard 2 A7.
Das ist auch eine Frage der Ressourcenverteilung: in der Heeresstruktur IV wurden die Heimatschutzbrigaden 51 und 56 schließlich doch wieder dem Feldheer unterstellt und mit modernerem Material ausgestattet, um die Flanken der NATO-Verteidigung in Nord- und Süddeutschland zu stärken. Der heutige Heimatschutz erstreckt sich eben nicht bis ins Baltikum – auch wenn der Pool an Reservisten, den er produzieren wird, sicher dem Feldheer ebenfalls zugutekommen wird. Für den von General Mais bis 2029 anvisierten Personalumfang von 145.000 findet sich jedenfalls bestimmt Verwendung. Bis 2035 dürfte sich der Bedarf, wie sein Schreiben andeutet, eher noch erhöhen. Im Hintergrund lauert dabei wie immer die Wehrpflichtdebatte. Aber das ist ein anderer Artikel.
Stefan Axel Boes




