Wie so ziemlich alles, was die US-Regierung unter Präsident Donald Trump verlautbaren lässt, hat die letzte Woche veröffentlichte neue amerikanische Nationale Sicherheitsstrategie (NSS) allenthalben große Aufregung ausgelöst. Genau das ist natürlich auch der Zweck so ziemlich aller Verlautbarungen dieser Administration. Die gewünschte Wirkung wurde also wohl voll erreicht, obwohl ein einfaches Augenrollen vermutlich genügt hätte. Dazu muss man sich nur Trumps Vorwort durchlesen. Das ist im üblichen, vor allem an die eigenen Wähler gerichteten, ideologischen beladenem und weitgehend realitätsbefreiten Duktus gehalten. Etwa, wenn der Präsident sich rühmt, schon acht Kriege beendet zu haben. Unzweifelhaft ist das allerdings lediglich für den zwischen Israel und dem Iran, den Trump zum Missfallen des anti-globalistischen Lagers seiner Basis durch direktes Eingreifen zugunsten Israels stoppte.
Währenddessen sind die Kämpfe zwischen Kambodscha und Thailand gerade wieder aufgeflammt, die Umsetzung der Waffenstillstandsabkommen in Gaza sowie zwischen dem Kongo und Ruanda steht noch in den Sternen, und ein „Krieg zwischen Serbien und dem Kosovo“ hat nie stattgefunden. Bei den sonst angeführten ist der amerikanische Beitrag eher strittig. So beim jüngsten Kaschmir-Krieg: Nur Pakistan, das diesen Konflikt schon immer internationalisieren wollte, dankte den USA für dessen angeblich von ihnen bewirkte Ende. Indien, das die Frage als interne Angelegenheit betrachtet, bestritt dagegen deren Mitwirkung. Und so lässt sich auch die gesamte NSS als Wunschdenken lesen. Nicht zuletzt der Teil über Europa, der dort für besondere Konsternation gesorgt hat.
Die eigenen Ängste
Um dessen Darstellung als durch fehlgeleitete Einwanderungs- und Industriepolitik von „Selbstauslöschung“ bedrohte Zivilisation zu verstehen, die von den USA wieder auf den rechten Weg gebracht werden müsse, muss man während des internen Kulturkriegs der letzten Jahrzehnte amerikanische Diskussionsforen mit politischem Einschlag verfolgt haben. Sie sind einfach zu finden: Die Polarisierung der US-Gesellschaft hat dazu geführt, dass dies mittlerweile für praktisch alle solche Foren gilt. Dabei lernt man vor allem, dass die ideologischen Ränder ihre Ängste, ihre daraus entstehende Wut und ihr resultierendes Verhalten stets auf das gegnerische Lager projizieren. Sie werfen diesem also vor, so zu denken und zu handeln, wie sie es selbst tun. Eine quasi exponentielle Funktion wird das, wenn sich die Gegner gegenseitig der Projektion beschuldigen.
Nichts anderes als dies ist auch das in der amerikanischen Rechten seit langem verbreitete Europabild eines durch Sozialismus, Umweltschutz, Genderpolitik, Überfremdung und ähnliche Kampfbegriffe im Abstieg begriffenen Kontinents. Oft verbunden mit der Warnung: So wird es den USA ebenfalls gehen, wenn wir nicht richtig wählen. In Wirklichkeit war es allerdings schon immer etwas albern, wenn sich gerade Amerikaner über prekäre Gesellschaftsverhältnisse und Gewaltverbrechen in irgendeinem Teil Europas aufregen. Es hilft wohl, zu glauben, dass man diesbezüglich immer noch besser dran sei als die Europäer, die sich von ihren Regierungen gehorsam in den Abgrund führen ließen. Ganz anders als der selbst gewählte Präsident natürlich, der bestimmt weiß, was er tut. Selbst wenn man es als normalsterblicher Anhänger nicht immer nachvollziehen kann.
Die eingefrorene Zeit
In Wirklichkeit fürchten diese vielleicht, dass Europa, die Wurzel der traditionellen amerikanischen Kultur, genauso wird wie die heutigen USA. Denn das idealisierte Bild europäischer Länder, mit allen oft herablassend belächelten Stereotypen, entspricht dem, das sie und ihre Artverwandten auf der anderen Seite des Atlantiks jeweils auch von ihren eigenen haben: Eine heile Welt vor den gesellschaftlichen Veränderungen der 1960er Jahre und den Auswirkungen der Globalisierung nach dem Kalten Krieg. So ist die eigentliche Angst wohl eher, dass Länder sich überhaupt verändern. Dass sie keine in der Zeit eingefrorenen Freilichtmuseen oder Themenparks nationalen Ausmaßes zur Erbauung der enthusiastischen Betreiber und transatlantischer Touristen sind. Die parallele Hoffnung ist dann, dass man sie genau dazu machen könnte, notfalls mit Hilfe der US-Regierung.

Dazu passt der Vorhalt in der NSS, dass der Anteil der EU an der globalen Wirtschaftsleistung aufgrund regulativer Hemmnisse für Kreativität und Fleiß seit 1990 von 25 auf 14 Prozent gesunken sei. Nun würden viele Europäer zustimmen, dass diese Hemmnisse ein Problem sind. Angesichts aufstrebender neuer Wirtschaftsmächte wie China und Indien ist die Erklärung für das schrumpfende europäische Kuchenstück jedoch unterkomplex. Sie unterschlägt etwa, dass der Anteil der USA im selben Zeitraum mit diversen Schwankungen von über 30 auf 26 bis 27 Prozent gesunken ist – weniger stark, aber deutlich parallel zum Aufstieg Chinas. Allerdings: Ausweislich der NSS-Langfassung, über die das Fachportal Defense One berichtet, ist dieser Blick auf Europa nicht nur solchem Populismus geschuldet.
Die gegenseitige Verachtung
Dort sei vielmehr vorgesehen, geeignete europäische Länder wie Italien, Österreich, Polen und Ungarn durch Unterstützung ideologisch zugeneigter Parteien und Bewegungen von der EU wegzuziehen. Diese sollten eine Rückkehr zur nationalen Souveränität und „traditionellen europäischen Lebensweise“ anstreben, dabei aber immer noch pro-amerikanisch sein. Was schon einmal das erste Problem darstellt, weil sich die verbindende Ideologie des Anti-Globalismus letztlich gegen die wesentlich von den USA gestaltete und dominierte Weltordnung richtet. Und weil die europäischen Anhänger dieser Ideologie der amerikanischen Rechten in ihrem herablassenden Blick auf die Stereotypen der jeweiligen (Un-)Kultur jenseits des Atlantiks in nichts nachstehen. Auch wenn die regierenden oder tendenziell regierungsfähigen Parteien in den genannten Ländern – anders als etwa der französische Rassemblement National – eine opportunistische Sympathie für Trump zeigen.
Diese Sympathie ähnelt allerdings derjenigen, die europäische Linke seinerzeit für Barack Obama pflegten: als Hoffnungsträger für ein „europäischeres“ Amerika, das endlich ein vernünftiges Sozial- und Gesundheitsversicherungssystem, strenge Waffengesetze und ähnliches einführen würde. Vor allem aber eines, das sich weniger in die Angelegenheiten anderer Länder einmischen, weniger militärisch intervenieren und ganz allgemein seine Werte und Kultur weniger exportieren würde. Nachdem sich Obama, auch wegen der normativen Kraft des Faktischen, als zu amerikanisch erwies, kühlte die Begeisterung rasch ab. Ähnliches ist bei den heutigen Anti-Globalisten in aller Welt zu beobachten, die Trump vor allem als nützlichen Idioten betrachten. Sobald er nicht nützlich oder idiotisch genug für ihre anti-amerikanischen Interessen handelt, wenden sie sich gegen ihn.
Der materielle Preis
Das geschieht sogar im eigenen Wählerlager, wenn er gegen anti-globalistische Champions wie Russland, Venezuela oder selbst Iran vorgeht – beziehungsweise Profiteure der amerikanisch geführten Weltordnung wie die Ukraine, Israel oder NATO-Partner zu sehr unterstützt. Trumps europäischen Wahlverbündeten ist das allerdings weniger wichtig, solange sie ihrerseits die Unterstützung eines Amerika genießen können, das sich seine Politik tatsächlich von ihnen abgeschaut hat. Selbst der Rassemblement National dürfte wohl die Hinwendung der USA zu einer seinen Anhängern vertrauten Kultur unter Trump würdigen: Militärparaden am Nationalfeiertag, in den Straßen der Großstädte patrouillierenden Soldaten, staatliche Beteiligung an strategisch wichtigen Wirtschaftsunternehmen und Preiskontrollen für Medikamente. Très français!

Das größere Problem wäre vermutlich ein gemeinsames Verständnis über die Art der Unterstützung. Bekanntlich ist etwa Polen größter Netto-Profiteur von EU-Geldern insgesamt, Ungarn pro Kopf. Das Erfolgsmodell des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban wie auch der ehemaligen polnischen PiS-Regierung beruht wesentlich darauf, Brüssel lauthals für alle Übel der Welt verantwortlich zu machen – und zugleich mit diesen Geldern wirtschaftliche und soziale Wohltaten für die Wähler zu finanzieren. Nach der Lehrstunde des britischen Brexits dürfte der Wille zum EU-Austritt, der diesem Modell die Grundlage entziehen würde, dort noch geringer geworden sein. Obwohl gerade Orban sich bemüht, alternative russische und vor allem chinesische Finanzquellen zu erschließen.
Die chinesische Erwiderung
In diesem Lager strebt man eher die Rückentwicklung der EU zu einer reinen Wirtschaftsgemeinschaft an, die die Vorteile des gemeinsamen Markts und des europäischen Finanzausgleichs bietet, aber ihre Mitglieder mit Vorgaben zu Demokratie und Grundrechten verschont. Für die in wirtschaftlichen Nullsummenspielen denkende Trump-Administration wäre das aber schon zu viel. Noch weniger würde sie allerdings die Rolle Brüssels als Geldgeber übernehmen. Gerade erst hat der Präsident vergessen, Orban jemals versprochen zu haben, ihm wie seinem argentinischen Kumpel Javier Milei vor den anstehenden Wahlen mit ein paar Milliarden Dollar den Rücken zu stärken. Das zeigt einen der Kernwiderspüche der neuen NSS: man will zwar weiterhin loyale Verbündete haben. Sie dürfen aber nichts kosten, sondern nach üblicher Trump-Meinung umgekehrt für amerikanischen Schutz zahlen.
Daran wird auch die Europa-Strategie der NSS beim geringsten ernsthaften Widerstand scheitern – so wie schon Trumps Versuche, China, Russland, Brasilien, Kanada oder dem kleinen Dänemark seinen Willen aufzuzwingen. Seit kurzem geistern etwa Meldungen herum, dass die EU-Mitglieder und Großbritannien vor den amerikanischen Zwischenwahlen im kommenden Jahr amerikanische Staatsanleihen im Gesamtwert von bis zu 2,34 Billionen Dollar liquidieren könnten, falls die US-Regierung die Ukraine an Russland auslieferte. Dies werde dann zu einem politisch heiklen Zeitpunkt zum Absturz des Dollars und der amerikanischen Wirtschaft führen. Bereits vor zehn bis 20 Jahren gab es in den USA Befürchtungen, dass China als damals größter ausländischer Gläubiger bei einem Konflikt diesen Schritt unternehmen könnte.
Die nukleare Option
Nicht umsonst wird das allerdings als „nukleare Option“ bezeichnet. Selbst ohne US-Vergeltungsmaßnahmen würden amerikanische Wirtschaftsprobleme Auswirkungen auf die Weltwirtschaft und damit auch die „Angreifer“ haben. Wenn der Angriff denn überhaupt wie vorgesehen funktioniert. Finanzielle Kriegführung ist schließlich ein komplexes Feld, wie Trump selbst mit seinen Versuchen bewiesen hat, die US-Wirtschaft mit Zöllen zu sanieren. Man muss das zunehmende Schweigen in den eingangs erwähnten Foren mit Pro-Trump-Einschlag in den letzten sechs Monaten erlebt haben, um das Unbehagen seiner Anhänger über die bisherigen Auswirkungen seiner Politik zu begreifen. Wie in der Theorie des Nuklearkriegs ist daher Abschreckung der eigentliche Wirkmechanismus.

So haben die entsprechenden Meldungen wohl vor allem den Zweck, die US-Regierung zum Nachdenken zu bringen: Wenn eine früher dem Systemkonkurrenten China zugeschriebene Gefahr auch von den bisher verbündeten Europäern ausgehen könnte, sollte man sich diese vielleicht nicht ohne Not zu neuen Gegnern machen. Denn zu den Widersprüchen der NSS – insbesondere der berichteten Langfassung – gehört ja auch, dass sie eine Abkehr von der globalen amerikanischen Führungsrolle, von multilateralen Organisationen und der Eindämmung systemischer Konkurrenten wie Russland und China vorsieht. Und sogar ein neues „C5“-Format mit den beiden letzteren, Japan und Indien, aber ohne europäische Mitglieder. An anderer Stelle jedoch den Erhalt und sogar den Ausbau der US-Präsenz in Europa.
Der amerikanische Rückzug
Dem widersprechen wiederum kürzliche Schritte wie die Aufstellung eines Western Hemisphere Command der U.S. Army gemäß der angestrebten Konzentration auf die Verteidigung von US-Territorium und eigener Interessen in Lateinamerika. Sowie Meldungen, dass die USA bereits 2027 die konventionelle Verteidigung Europas weitgehend den NATO-Verbündeten überlassen wollten. Hier hat allerdings auch der US-Kongress ein Wort mitzureden. Der kurz vor der Verabschiedung stehende National Defense Authorization Act 2026 macht die Reduzierung der Truppenstärke in Europa unter 76.000 Mann für mehr als 45 Tage von einer Erklärung des Verteidigungsministers und des regionalen Befehlshabers gegenüber dem Kongress abhängig, dass dies den nationalen Sicherheitsinteressen der USA entspreche, dass die Verbündeten konsultiert wurden, und welche Auswirkungen dies haben könne.
Das gleiche gilt für einen möglichen Rückzug vom Posten des militärischen NATO-Oberbefehlshabers (SACEUR). Bereits im März gab es einen Bericht, wonach die Regierung Trump dies erwäge. Kürzlich äußerte der amerikanischen NATO-Botschafters Matthew Whittaker, dass Deutschland künftig die Führungsrolle im Bündnis übernehmen solle. Zudem gab es ein verdächtiges Lob des „vorbildlichen Verbündeten“ von Verteidigungsminister Pete Hegseth. Von pro-russischen Quellen wurden die Widersprüche in der NSS teilweise als Abstufung von Prioritäten oder alternative Ansätze interpretiert. Demnach würden sich die USA auf die westliche Hemisphäre konzentrieren, wenn ihre globale Hegemonie nicht mit verringerten Anstrengungen aufrechterhalten werden könne.
Die Cthulhu-Alternative
Bezeichnend für die Qualität des inneramerikanischen Diskurses ist demgegenüber, dass die bislang vielleicht konziseste Kritik von einer Satire-Website kam, die sich beim Cthulhu-Mythos des Horrorschriftstellers H. P. Lovecraft bedient. Die NSS, so die knappe Zusammenfassung, setze zugleich „auf Souveränität, während sie Einflusssphären-Arrangements vorschlägt, die kleinere Nationen als Verhandlungsmasse in Deals zwischen Großmächten behandelt; lehnt ‚endlose Kriege‘ und Demokratieförderung ab, während sie erzwingende Interventionen in die europäische Innenpolitik fordert, um ‚zivilisatorisch bewusste‘ Regierungen zu installieren; behauptet verfassungsmäßige Legitimität, während sie die gesamte Strategie auf die Person eines einzelnen Anführers statt auf dauerhafte nationale Interessen zentriert“.
Mit dem diesem Niveau angemessenen Ernst schlagen die Autoren sodann vor: Statt den unausweichlichen Niedergang der menschlichen Zivilisation mit derart untauglichen Mitteln aufhalten zu wollen, sollten die USA doch durch massenhafte rituelle Menschenopfer die apokalyptische Gottheit Cthulhu erwecken. Auf diese Weise würde zumindest das Ende der Menschheit unter amerikanischer Führung stattfinden. Tja, Satire darf bekanntlich alles. Wer allerdings beides gelesen hat, wird zugeben müssen, dass die NSS zumindest nicht wesentlich rationaler ist als Lovecrafts Geschichten über ausweglosen Wahnsinn angesichts uralter übernatürlicher Mächte. Na dann, wie dessen Weltuntergangs-Kultisten bei dieser Gelegenheit intonieren würden: Iä! Iä! Cthulhu fhtagn!
Stefan Axel Boes




