Seit mehr als drei Jahren steht die Ukraine dem russischen Aggressor gegenüber. Ihre Streitkräfte zeichnen sich durch außerordentliche Fähigkeiten aus – eine Analyse.
Seit der erfolgreichen Abwehr der russischen Blitzoffensive im Frühjahr 2022 führen die ukrainischen Streitkräfte im Rahmen ihrer strategischen Defensive erfolgreiche Verteidigungsoperationen durch. Auf einer rund 1.500 Kilometer langen Frontlinie kämpfen sie gegen einen vierfach, in militärischen Schwerpunkten sogar bis zu zehnfach überlegenem Gegner. In den mehr als drei Jahren Abnutzungskrieg konnten die ukrainischen Streitkräfte den Zusammenhang der Verteidigung wahren und Durchbrüche von operativer Qualität verhindern. Sie fügten dem russischen Aggressor, gemessen an dessen territorialem Gewinn, unverhältnismäßig hohe Verluste zu. Regional und zeitlich begrenzt konnten sie teilweise die Initiative ergreifen. Das kann aus militärischer Sicht als Erfolg verbucht werden.
Die Ukraine hat eine historische Militärreform eingeleitet
Wie hat die Ukraine das geschafft? Zum einen hat die russische Armee in ihrem Angriffskrieg kläglich versagt; zum anderen liegt der ukrainische Erfolg im Gesamtverteidigungswillen, der gesellschaftlichen Resilienz und im Fähigkeitsprofil der ukrainischen Streitkräfte begründet. Mitte der 1990er-Jahre hatte die Ukraine eine an der NATO orientierte Militärreform vorangetrieben. Nach der russischen Annexion der Krim und den Kämpfen im Donbass 2014 wurde dieser Reformprozess beschleunigt. Zu den treibenden Reformkräften gehörte General Walerij Saluschnyj, von 2021 bis 2024 Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte. Saluschnyj stand für die Abkehr des ukrainischen Militärs vom sowjetischen Erbe und für eine strukturelle, vor allem aber intellektuelle Neuausrichtung nach westlichen Kriterien und Standards.
Ein solcher Transformationsprozess nimmt eine gewisse Zeit in Anspruch und ist aufgrund des laufenden Krieges noch nicht abgeschlossen. Dennoch wurden durch den Prozess wesentliche Voraussetzungen für das Fähigkeitsprofil der ukrainischen Streitkräfte geschaffen, das Stärken, aber auch Schwächen offenbart. Da es sich in der Ukraine im Wesentlichen um Landoperationen handelt, steht in der Analyse das ukrainische Heer im Mittelpunkt dieser Betrachtung.
Jüngere Offiziere sind mit westlichen Waffensystemen aufgewachsen
Eine bemerkenswerte Stärke der ukrainischen Streitkräfte ist ihre Lern-, Anpassungs- und Innovationsfähigkeit. Diese Fähigkeiten zeigen besonders die jüngeren Offiziere und Unteroffiziere, die im Zuge der von General Saluschnyj verordneten Reform militärisch sozialisiert wurden. Sie ermöglichen die Nutzung von westlichem Großgerät in den ukrainischen Streitkräften und haben bewiesen, dass sie nach einer relativ kurzen Ausbildungszeit die anspruchsvollen westlichen Waffensysteme beherrschen und auch einsetzen können.
Bei ausreichender Zeit für die Gemeinschaftsausbildung und mit westlicher Ausbildungsunterstützung konnte punktuell die Fähigkeit zum Führen einer Operation verbundener Kräfte geschaffen werden. Wegen der Rahmenbedingungen wurde die erforderliche Ausbildungshöhe jedoch nur für die Kompanieebene und fallweise für einzelne Bataillone erreicht. Das schließt Operationen verbundener Kräfte im Großverbandsrahmen, beispielsweise einer Brigade, nach westlichem Verständnis im Moment noch aus. Den ukrainischen Streitkräften ist es auch gelungen, im Laufe des Krieges ein zunehmend wirkungsvolleres Verteidigungssystem gegen Luft-, Raketen- und Drohnenangriffe aufzubauen. Auch das Mehrzweckkampfflugzeug F-16 Fighting Falcon kommt dabei in seiner Luftverteidigungsrolle zum Einsatz. Das Luftverteidigungssystem ist in der Lage, sowohl einfache Drohnen als auch hochleistungsfähige Raketen zu erkennen und abzuwehren. Somit bietet es lebensnotwendigen Schutz für die Truppe auf dem Gefechtsfeld und gleichermaßen für die zivile Infrastruktur.
Bei einem Luftangriff auf Kiew haben die russischen Streitkräfte 148 Raketen, Marschflugkörper und Drohnen eingesetzt. Nur sechs erreichten ihr Ziel.