Während des Kalten Krieges bildete die bodengebundene Luftverteidigung ein wesentliches Element in der Verteidigungsfähigkeit Deutschlands und der NATO zum Schutz vor Bedrohungen aus der Luft durch die Kräfte des Warschauer Paktes. Zusammen mit alliierten Partnern wurde seinerzeit ein Luftverteidigungsgürtel von Nord nach Süd durch Europa errichtet. Im Zentrum dieses Gürtels: Deutschland, im Falle eines Konflikts der erwartete Kulminationspunkt der militärischen Auseinandersetzungen. Zudem verfügte das Heer zum Schutz der Landstreitkräfte über eine schlagkräftige Heeresflugabwehr. Dadurch wurden die gegnerischen Handlungsoptionen erheblich eingeschränkt und dessen Operationsführung massiv erschwert.
Nach dem Ende des Kalten Krieges und der Auflösung des Warschauer Paktes richtete sich der Fokus der NATO primär auf das internationale Krisen- und Konfliktmanagement aus. In den Auslandseinsätzen der vergangenen Jahrzehnte standen die eingesetzten Kräfte keiner nennenswerten Bedrohung aus der Luft gegenüber. In der Folge reduzierten viele der NATO-Mitgliedstaaten – wie auch Deutschland – die Kräfteumfänge im Bereich der bodengebundenen Luftverteidigung, investierten nur wenig in deren Modernisierung oder gaben sie gleich ganz auf.
Mit der u. a. durch Sparzwänge ausgelösten Neuausrichtung der Bundeswehr in der letzten Dekade erfolgte auch in der Luftwaffe eine Schwerpunktverlagerung im Fähigkeitsprofil vom Kampf gegen das gegnerische Luftkriegspotenzial hin zu unterstützenden Luftoperationen sowie Überwachung und Aufklärung. Die Aufgaben im Bereich der bodengebundenen Luftverteidigung und Flugabwehr wurden in Gänze der Luftwaffe zugeordnet. Diese übernahm u. a. aufgrund der zu erwartenden Einsatzrelevanz die Aufgaben zum Nächstbereichsschutz gegen Raketen, Artillerie und Mörser sowie die Fähigkeit des Schutzes beweglich geführter Operationen zu Land, einhergehend mit der Einführung bzw. Übernahme der Waffensysteme MANTIS und des leichten Flugabwehrsystems. Der Verzicht auf einen organischen begleitenden Flugabwehrschutz im Heer wurde aufgrund der damaligen und seinerzeit absehbaren Einsatzrealitäten als hinnehmbar bewertet und die Heeresflugabwehr aufgelöst.
Die Refokussierung der Bundeswehr auf die Aufgabe der Landes- und Bündnisverteidigung (LV/BV) unter gleichzeitiger Beibehaltung der Aufgabe des internationalen Krisenmanagements zieht auch einen Ausgleich der vorgenommenen Schwerpunktverlagerung im Fähigkeitsprofil mit der im Jahr 2012 erfolgten Neuausrichtung der Luftwaffe nach sich. Der Schutz beweglich geführter Operationen der Landstreitkräfte sowie von Kräften und Einrichtungen am Boden ist zum Erlangen der eigenen Operationsfreiheit in einem LV/BV-Szenario von besonderer Bedeutung und hat in der bodengebundenen Luftverteidigung wieder eine Aufwertung erfahren. Aber insbesondere auch der Schutz der eigenen Bevölkerung und kritischer Infrastruktur muss sichergestellt werden. Diesbezüglich wurde bereits im Jahr 2018 mit der „Konzeption der Bundeswehr“ die Territoriale Flugkörperabwehr zur Dauereinsatzaufgabe erklärt – eine Aufgabe, die an 24 Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche an 365 Tagen im Jahr wahrzunehmen ist! Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine und das damit einhergehende tragische Leid der Zivilbevölkerung durch die massiven Angriffe aus der dritten Dimension unterstreichen die Bedeutung und Notwendigkeit einer umfassenden bodengebundenen Luftverteidigung – elementar für den Schutz der Bevölkerung, der kritischen Infrastruktur und zum Erhalt der eigenen Operationsfreiheit. In den vergangenen Dekaden hat sich das Bedrohungspotenzial aus der Luft erheblich gewandelt. Dieses reicht bei Kräften und Mitteln von „sehr hoch und sehr schnell“ bis „sehr klein, sehr langsam und sehr viele“.
Auch wenn der Einsatz von Unmanned Aircraft Systems unterschiedlicher Größenordnungen, wie uns der aktuelle Krieg in der Ukraine derzeit nahezu täglich leidvoll ins Bewusstsein führt, einen enormen Anstieg erfahren hat und mit der Entwicklung von Hyperschallwaffen weitere Technologien an Relevanz gewinnen, ist aufgrund der Vielfalt des Bedrohungspotenzials eine Reduzierung auf „eine Hauptbedrohung“ weder sinnvoll noch möglich. Die bodengebundene Luftverteidigung muss befähigt sein, in allen Abfangschichten – Luft und Weltraum – gegen das gesamte Bedrohungspotenzial wirken zu können. Dieses reicht von klassischen Kampfflugzeugen und Hubschraubern über Marschflugkörper, Drohnen unterschiedlicher Größenklassen, Raketen, Artillerie und Mörsern bis hin zu ballistischen Raketen und Hyperschallwaffen.
Dies stellt die bodengebundene Luftverteidigung vor große Herausforderungen, da hierfür sowohl qualitative als auch quantitative Anpassungen vorgenommen werden müssen. Die bereits im Jahr 2021 eingeleitete Modernisierung der Patriot- Einheiten, die Beschaffungsvorhaben aus dem Sondervermögen der Bundeswehr – hier insbesondere die Beschaffung der Waffensysteme Arrow, IRIS-T SLM und das Luftverteidigungssystem Nah- und Nächstbereichsschutz (LVS NNbS) – sowie die durch Deutschland initiierte European Sky Shield Initiative (oder kurz ESSI) bilden hierfür die Grundlage. Mit dem Einstieg in die Territoriale Flugkörperabwehr erlangt die Luftwaffe erstmals die Fähigkeit zur Frühwarnung vor und der Bekämpfung von anfliegenden ballistischen Raketen und damit die Möglichkeit, den Schutz des gesamten Territoriums Deutschlands und unserer Bevölkerung nebst der hierin enthaltenen kritischen Infrastruktur vor dieser potenziellen Bedrohung zu gewährleisten. Finanziert aus dem Sondervermögen der Bundeswehr, rüstet die Bundeswehr hierzu das Arrow Weapon System mit dem Lenkflugkörper des Typs Arrow 3 aus. Dieser Lenkflugkörper wirkt im exo-atmosphärischen Bereich, also in einer Abfanghöhe oberhalb von 100 km. Für die Ausrichtung des Systems werden potenzielle Bedrohungen aus „360°“ betrachtet, die von Land, aus der Luft, aber auch von See (auch von Ubooten) aus gestartet werden können. Ziel ist, eine Anfangsbefähigung mit diesem System bereits im Jahr 2025 herzustellen.
Mittlerweile in die Jahre gekommene und nicht mehr in Gänze den aktuellen Anforderungen gerecht werdende leichte Flugabwehrsystem wird dem Luftverteidigungssystem Nah- und Nächstbereichsschutz weichen. Das neue System wird im Wesentlichen aus einer Mittelbereichskomponente und einer hochmobilen gepanzerten Nächstbereichskomponente bestehen. Ergänzt wird es durch eine Befähigung zur Wirkung gegen small Unmanned Aircraft Systems sowie gegen Raketen, Artillerie und Mörser. Damit erfolgt der dringend benötigte Fähigkeitsaufwuchs im Bereich kurzer und mittlerer Reichweite. Ohne einen solchen Systemverbund als System aus Systemen sind insbesondere der Schutz von Landoperationen und der Schutz wichtiger Infrastruktur kaum möglich. Mit der beschlossenen Verortung der hochmobilen Systeme beim Heer und der Systeme zum Schutz im Nahbereich bei der Luftwaffe ergänzen sich die Expertisen des Heeres bei der Durchführung von beweglich geführten Landoperationen und die der Luftwaffe für den Einsatz im Rahmen der integrierten NATO-Luftverteidigung auf der taktischen Ebene. Der Entwicklungsvertrag für dieses System aus Systemen wurde Anfang des Jahres 2024 geschlossen.
Da das Luftverteidigungssystem Nah- und Nächstbereichsschutz in Teilen noch auf zu entwickelnden Komponenten basiert, wird im Rahmen des Sondervermögens der Bundeswehr eine Beschaffung von sechs Waffensystemen IRIS-T SLM umgesetzt. Auch bei diesem Beschaffungsvorhaben erfolgt die Einführung im Vergleich zu bisherigen Rüstungsprojekten in sehr hoher Geschwindigkeit und es ist ein sichtbares und deutliches Zeichen der Zeitenwende. Mit dem Erreichen der Initial Operational Capability des Personals der ersten Feuereinheit im Jahr 2024 und dem weiteren zeitnahen Systemzulauf erzielt die Luftwaffe einen erheblichen quantitativen, qualitativen und vor allem schnellen Fähigkeitsaufwuchs. Dieses System ist zudem ein zentraler Bestandteil der European Sky Shield Initiative (ESSI) und soll durch die gemeinsame Beschaffung mit europäischen Partnern weitere Synergieeffekte im gemeinsamen Einsatz sowie im Bereich der Ausbildung erzielen.
Die Bundeswehr wird auch weiterhin umfangreich in das Rückgrat unserer Luftverteidigung – dem Waffensystem Patriot – investieren. Mit den laufenden und zukünftigen Modernisierungen bleibt das System bis weit in die 2040er-Jahre eines der modernsten und leistungsstärksten Systeme zur Luftverteidigung in Europa. Damit einhergehend werden auch die Voraussetzungen für den Erhalt und die Verbesserung der multinationalen Interoperabilität und damit dem Einsatz im multinationalen Verbund geschaffen. Grundsätzlich wird jedoch keine Nation allein über ausreichende Fähigkeiten im Bereich der bodengebundenen Luftverteidigung verfügen.
Daher wurde durch Deutschland die ESSI zur rapiden Stärkung insbesondere des europäischen Pfeilers der NATO-Luftverteidigung ins Leben gerufen. Die Erhöhung der Sicherheit der NATO und Europas soll u. a. erreicht werden durch die Beschaffung marktverfügbarer Luftverteidigungssysteme zur Schließung zeitkritischer Fähigkeitslücken, das Einsparen und bündeln von Ressourcen durch Schaffung von industriellen, wirtschaftlichen und technologischen Synergien und die Erhöhung von Interoperabilität durch gemeinsame Beschaffung gleicher bzw. zumindest kompatibler Systeme.
Über die ESSI eröffnet sich auch die Möglichkeit, operationelle Potenziale zu erschließen. Die Luftwaffe verfolgt u. a. die Realisierung einer gemeinsamen europäischen Ausbildung. Anstatt Doubletten in Ausbildungsstrukturen in Europa zu kreieren, besteht die Möglichkeit der Multinationalisierung unserer Ausbildungseinrichtung, die wir auch für das Waffensystem IRIS-T SLM in Deutschland vorgesehen haben, bei der sich unsere Partner mit Expertise mit einbringen sowie die Öffnung weiterer Trainings an dem Ausbildungszentrum Flugabwehrraketen für unsere Partner. Zu diesem Zweck hat der Inspekteur der Luftwaffe Anfang September 2023 die ESSI Air Chiefs nach Deutschland eingeladen, um dieses Vorhaben – das European Integrated Air and Missile Defense Training Center – vorzustellen. Die weitere Ausgestaltung befindet sich in der Umsetzung.
Insgesamt werden die Fähigkeiten der bodengebundenen Luftverteidigung der Bundeswehr quantitativ und qualitativ deutlich verbessert und die Möglichkeiten des Wirkens gemeinsam mit multinationalen Partnern im Verbund erheblich gestärkt.
Oberst i.G. Dennis Krüger ist Beauftragter, Major Thomas Finkeldey stellvertretender Beauftragter des Inspekteurs der Luftwaffe für die Projekte der bodengebundenen Luftverteidigung im Kommando Luftwaffe