Bei der Vorstellung des Modells für einen „neuen Wehrdienst“ hat Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius ausdrücklich erklärt, dass dieses im Rahmen dessen zu sehen sei, was unter den gegenwärtigen verfassungsrechtlichen Bedingungen und Kapazitäten der Bundeswehr machbar sei – also vor dem Ende der laufenden Legislaturperiode im kommenden Jahr. Daher die angestrebte Zahl von lediglich 5.000 zusätzlichen Wehrdienstleistenden und die Beschränkung der Pflicht zur Beantwortung des an alle Achtzehnjährigen zu versendenden Fragebogens auf die Männer. Mehr kann die Bundeswehr in 2025 nicht unterbringen und ausbilden, und eine Zweidrittelmehrheit zur Änderung des Grundgesetzes ist vor der nächsten Bundestagswahl unwahrscheinlich.
In der Masse der schnellen politischen Reaktionen wurden diese Rahmenbedingungen erwartbar ignoriert. Der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Johann Wadephul, nannte das Modell eine verpasste Chance: Es sei weder Fisch noch Fleisch, der Minister bleibe zu viele Antworten zu den Details schuldig. Die CDU-Abgeordnete Kerstin Vieregge aus dem Verteidigungsausschuss kritisierte, dies sei ein enttäuschendes Resultat, das weit hinter den Erwartungen und dem Notwendigen zurückbleibe. Demgegenüber drückten Abgeordnete der Grünen und Linken Befürchtungen aus, dass die Pläne die Rückkehr zur Wehrpflicht durch die Hintertür bedeuteten. In den Kommentarspalten des Internets konzentrierten sich viele auf die Ungleichbehandlung von Männern und Frauen.
Nicht alles an der Kritik ist falsch. Dass die Pläne einen Minimalkonsens in der Ampelkoalition darstellen, ist offensichtlich. Dass sie eine künftige Wehrpflicht nicht ausschließen, ebenso. Doch für Pistorius drängt wohl die Zeit – und nicht nur die bis zur nächsten Wahl. Schon zuvor gab es Schätzungen, dass der Wiederaufbau eines umfassenden Musterungs- und Einberufungssystems fünf Jahre dauern könnte. Und der Minister hat als Ziel seiner gesamten Politik angegeben, die Bundeswehr bis zu einer für 2029 erwarteten Fähigkeit Russlands zur konkreten Bedrohung von NATO-Territorium kriegstüchtig zu machen.
Der Beginn des dafür nötigen personellen Aufbaus im nächsten Jahr ergibt sich daraus von selbst. Erstaunlicherweise am wenigsten kommentiert worden ist die im Konzept enthaltene Feststellung, dass Deutschlands Beitrag zur Bündnisverteidigung nach heutiger Bewertung einen Verteidigungsumfang von 460.000 Soldatinnen und Soldaten erfordert. Wie viele davon über den ebenfalls erwähnten Friedensumfang von 200.000 hinaus für den unmittelbaren Aufwuchs – jüngst wurde angesichts von NATO-Forderungen ja ein Zusatzbedarf von 75.000 berichtet – und wie viele etwa als Ersatzreserve vorgesehen wären, bleibt vorläufig unklar.
Klar ist, dass Pistorius die Personalfrage umtreibt. Ansonsten hätte er es gut einer Nachfolgeregierung in einem Nicht-Wahljahr überlassen können, den ersten Schritt zum Wiederaufbau eines Systems zu tun, das einen solchen Aufwuchs möglich macht. Denn mehr ist das neue Modell nicht. Es soll erklärtermaßen nicht einmal der Verstärkung der aktiven Truppe, sondern dem Generieren zusätzlicher Reservisten dienen, die bei Bedarf mobilisiert werden können. Dazu soll die Zahl der zusätzlichen Wehrdienstleistenden in den kommenden Jahren in dem Maße erhöht werden, wie es die Kapazitäten der Bundeswehr zulassen. Ob und wann dazu wieder eine tatsächliche Wehrpflicht nötig wird, ob diese auch Frauen umfassen wird, wird sich dann zeigen.
Stefan Axel Boes