Längst hat sich das, was vor allem im Internet als sicherheitspolitischer Diskurs durchgeht, von der Realität völlig entkoppelt. Trolle beherrschen die Diskussion. Weite Teile des Publikums, das sich aus „alternativen Quellen“ informiert, sind mit Argumenten auf Faktenbasis nicht mehr zu erreichen. Da bleibt nur Ironie, wenn nicht gar Sarkasmus. Vielleicht sogar Satire!
Kürzlich rauschte wieder eine Internet-Empörungswelle aus Russland bis in die deutschen Mainstream-Medien: Die Einrichtung des Hauptquartiers Commander Task Force Baltic mit zugeordneten Vertretern der NATO-Partner in Rostock verstoße gegen den Zwei-plus-Vier-Vertrag. Dieser bestimmt bekanntlich in Artikel 5: „Nach dem Abschluss des Abzugs der sowjetischen Streitkräfte vom Gebiet der heutigen Deutschen Demokratischen Republik und Berlins können in diesem Teil Deutschlands auch deutsche Streitkräfteverbände stationiert werden, die in gleicher Weise militärischen Bündnisstrukturen zugeordnet sind wie diejenigen auf dem übrigen deutschen Hoheitsgebiet, allerdings ohne Kernwaffenträger. […] Ausländische Streitkräfte und Atomwaffen oder deren Träger werden in diesem Teil Deutschlands weder stationiert noch dorthin verlegt.“
Nun könnte man lange diskutieren, was „Streitkräfte“ im Sinne des Vertrages ausmacht, und ob etwa auch Verbindungsoffiziere bei anderen Kommandos der Bundeswehr in Berlin und Umgebung oder die Militärattachés an den dortigen Botschaften darunterfallen. Das ist aber natürlich von den Wellenmachern nicht angestrebt. Auf deutschsprachigen pro-russischen Internetseiten schwirren schon länger Berichte über Initiativen herum, wonach Russland den Zwei-plus-Vier-Vertrag wegen angeblicher Verstöße Deutschlands „kündigen“ könnte. Dass man völkerrechtliche Verträge ohne eigene Klauseln darin nicht einfach kündigen kann, und dass der Schritt eigentlich keine praktischen Folgen hätte, ist ebenfalls unerheblich. Es geht nur um die Botschaft „Deutschland verletzt den Vertrag, und deswegen könnte Russland jetzt wieder Truppen in der ehemaligen DDR stationieren!“
Trolle fahren Retourkutschen
Und so fahren russische Internet-Trolle nun fröhliche Retourkutschen auf westliche Vorwürfe gegen Russland wegen seines Angriffskriegs in der Ukraine: Deutschland „remilitarisiere“ die ex-DDR. Die NATO zerstöre „gezielt die gesamte Sicherheitsarchitektur und trete Verträge und internationales Recht buchstäblich mit Füßen“. Es bleibe „nur das Recht des Starken“. Anschließend bestellt dann das russische Außenministerium den deutschen Botschafter deswegen ein. Der wird natürlich dafür bezahlt, sich solchen Unsinn anzuhören, und ist auch gar nicht der eigentliche Adressat. Das ist das breite Publikum, das am Ende vor lauter alternativen Fakten gar nichts mehr glaubt. Und deswegen können Akteure wie Russland dann auch machen, was immer sie wollen. Das ist die Troll-Apokalypse.
Dem Filmfan fällt an dieser Stelle unweigerlich Stanley Kubricks Meisterwerk „Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte die Bombe zu lieben“ ein. Als es schon nur noch darum geht, wie der unausweichlich bevorstehende Atomkrieg überlebt werden kann, schlägt Peter Sellers titelgebender Charakter eines ehemaligen Nazi-Wissenschaftlers vor, eine ausgewählte Elite in Minenschächten unterzubringen. Von dort aus soll sie mit vielen schönen Frauen die Welt wieder bevölkern. Nachdem der sowjetische Vertreter seine Sympathie für diese Idee ausdrückt, ruft der amerikanische Generalstabschef, ganz im Sinne diverser beschaffungspolitisch motivierter Feststellungen von „Rüstungslücken“ während des Kalten Krieges: „Mr. President, wir dürfen keine Minenschacht-Lücke zulassen!“
Das deutsche Troll-Potenzial nutzen!
Deutschland verfügt aus denselben Gründen, aus denen es ein bevorzugtes Ziel pro-russischer Internet-Trolle ist, auch selbst über ein enormes offensives Troll-Potenzial. Es muss es nur nutzen. Wir dürfen keine Troll-Lücke zulassen! Vielleicht sollte die nächste NATO-Übung 2025 also im Sinne von „train as you fight“ in einer Welt alternativer Realitäten und mit umfassender Einbeziehung sozialer Medien stattfinden. Quasi eine Mischung aus Wiesbadener „Tatort“ und dem Instagram-Tagebuch von Sophie Scholl mit reichlich KI-generierten Deepfakes, zugleich mit der Chance zum Durchspielen erschwerter Bedingungen für die Bündnisverteidigung.
Die Übungslage könnte so aussehen: In einem strategisch wichtigen Teil eines für die Organisation der gemeinsamen Verteidigung entscheidenden Bündnispartners ergreifen russlandfreundliche Parteien die Macht und erklären den Zwei-plus-Vier-Vertrag für ungültig. Nennen wir diese Region „Querfrontland“. Querfrontland schließt mit Russland einen Pakt mit einem geheimen Zusatzprotokoll über die Aufteilung der jeweiligen Interessensphären. Auf dessen Grundlage greifen beide Parteien Polen an. Ein wilder Mix aus Zweitem Welt- und Ukrainekrieg entwickelt sich, garniert mit reichlich Internet-Memes.
Ein querfrontländisches Kriegsschiff beschießt die Westerplatte und fordert die Besatzung zur Kapitulation auf, wird aber später bei einem Lenkwaffenangriff in der Ostsee versenkt. Der Nachschub der Angreifer bleibt in einem gewaltigen Stau vor Warschau stecken. Die NATO landet mit der Operation „Dragonlord“ am Strand Warnemünde. Die querfrontländische Regierung flieht in den Iran. Russland beschwert sich, dass niemand seine nuklearen Drohungen ernst nimmt. Die polnische Armee marschiert auf Moskau. In einem viralen Video beschuldigt Putin bei einer Lagebesprechung in seinem Bunker die gesamte russische Generalität der Inkompetenz. Dann springt Peter Sellers aus seinem Rollstuhl auf und ruft: „Mein Führer, ich kann wieder gehen!“
Das Troll-Prinzip
Wahrscheinlich versteht die Hälfte des Publikums die historischen Bezüge nicht, und die andere Hälfte nichts von der zitierten Internet-Popkultur. Aber das macht nichts: Beim erfolgreichen Trollen ist es geradezu Prinzip, dass das Zielpublikum keine Ahnung von den Hintergründen hat und sich zur Freude der Trolle über dumme Argumente, Geschichtsverdrehung und Nazisprache aufregt. Wichtig ist nur, dass es beginnt, an den Grundlagen von Realität und gesundem Menschenverstand zu zweifeln. Und sich zum Beispiel ernsthaft zu fragen, ob der Gegner wirklich so verrückt ist, Nuklearwaffen einzusetzen, nur weil sein kleiner Kolonialkrieg in die Hose geht.
Zu lange haben pro-russische Trolle unangefochten die Überzeugung verbreitet, dass Putin so ein Typ ist, dem man also besser nicht widerspricht, weil er sonst vielleicht die Welt in die Luft jagt. Quasi die personifizierte sowjetische Weltvernichtungsmaschine aus „Dr. Seltsam“. Es ist Zeit, die Angst vor solchen alternativen Realitäten zu überwinden und die Troll-Lücke zu schließen. Ab heute wird zurückgetrollt!
Stefan Axel Boes