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Die transatlantische Lücke: Europas Verteidigung und Deutschlands Beitrag

The Germans to the front: Bei einem amerikanischen Rückzug aus der NATO müsste Deutschland große Teile der entstehenden Lücke füllen. (Foto: Bundeswehr/Marco Dorow)
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Seit die transatlantischen Beziehungen im Wochentakt abzubröckeln scheinen, gibt es diverse Überlegungen, wie Europa und insbesondere Deutschland einen möglichen kompletten Rückzug der USA aus der NATO kompensieren müssten. Veröffentlichungen dazu beruhen notwendigerweise auf offen verfügbaren Informationen über aktuelle Stärken und Fähigkeiten. Unter anderem hat das Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW), bekannt für seinen Ukraine Support Tracker, kürzlich zusammen mit dem Brüsseler Forschungsinstitut Bruegel eine erste Analyse erstellt. Diese kommt zu dem Ergebnis, dass die Europäer im Fall eines russischen Angriffs sowohl die derzeit auf dem Kontinent stationierten rund 100.000 US-Soldaten als auch erwartete Verstärkungen von bis zu 200.000 Mann und Frau ersetzen müssten.

Der tatsächliche Bedarf liege dabei vermutlich über diesen insgesamt 300.000 Mann, da deren Kampfkraft in einheitlich geführten amerikanischen Großverbänden denen der zersplitterten europäischen Streitkräfte überlegen sei. Bereits diese Zahl entspreche jedoch 50 neuen europäischen Brigaden. Die Kosten für Personal und notwendige Ausstattung lägen bei etwa 250 Milliarden Euro zusätzlich pro Jahr, was zu Ausgaben in Höhe von etwa 3,5 Prozent der Wirtschaftsleistung Europas führen würde. Für Deutschland entspräche dies rund 140 Milliarden jährlich. Sein Beitrag zur kollektiven Verteidigung müsse zudem von den derzeit zugesagten zwei Divisionen mit insgesamt etwa 40.000 Mann sicherlich auf nahezu 100.000 steigen.

Rotierende transatlantische Entschlossenheit

Diese Zahlen stellen eine gute Annäherung dar, wobei 300.000 Mann natürlich nicht einfach mit 50 Brigaden gleichgesetzt werden können. Tatsächlich umfassen die derzeit rund 100.000 US-Truppen in Europa lediglich fünf Bodenkampfbrigaden. Davon sind zwei – eine mittlere unter dem Traditionsnamen 2nd Cavalry Regiment im bayerischen Vilseck sowie die 173rd Airborne Brigade im italienischen Vicenza – dauerhaft stationiert. Drei weitere, zwei mechanisierte und eine leichte Brigade, rotieren im Rahmen der Operation Atlantic Resolve als Antwort auf die russische Invasion der Ukraine zu jedem Zeitpunkt durch Osteuropa. Ein großer Teil der amerikanischen Streitkräfte sind allerdings Logistiktruppen, die Versorgungsaufgaben für Einsätze in Europa, aber auch darüber hinaus übernehmen: etwa das auf Divisionsebene angesiedelte 21st Theater Sustainment Command mit Hauptquartier in Kaiserslautern.

Deutsche und amerikanische Soldaten bei der Verlegung nach Estland zur Übung Saber Strike 2016.
Deutsche und amerikanische Soldaten bei der Verlegung nach Estland zur Übung Saber Strike 2016. (Foto: Bundeswehr/Marko Greitschus)

Hinzu kommen zahlreiche weitere Unterstützungstruppen sowie Luftwaffen- und Marineverbände. Amerikanische Verstärkungen im Kriegsfall würden vermutlich einen höheren Anteil von Bodenkampftruppen enthalten, da für die Logistik mit den vorstationierten Verbänden bereits in erheblichem Umfang gesorgt ist. Daher lässt sich die gegenwärtige Zahl von fünf Brigaden auch nicht einfach verdreifachen, wenn weitere 200.000 Mann hinzukämen. Insgesamt umfassen die gesamten aktiven US-Streitkräfte derzeit 31 Brigaden zuzüglich des Marinekorps, die allerdings auch anderen Weltgegenden als Europa für den Einsatz zugewiesen sind. Weitere 25 gehören zur Nationalgarde und sind mobilisierungsabhängig, jedoch auch regelmäßig im Auslandeinsatz.

Höhere Bündnismathematik

Im Ergebnis lässt sich die tatsächliche Zahl von US-Verbänden, die Europa im Fall eines amerikanischen NATO-Rückzugs ersetzen müsste, auf dieser Basis nicht genau beziffern. Als Anhalt können jedoch Meldungen aus dem letzten Jahr über die neuen Minimum Capability Requirements für das Bündnis dienen. Unter anderem soll es künftig 131 statt bisher geplanten 82 Kampftruppen-Brigaden, 38 statt 24 Divisions- und 15 statt sechs Korpskommandos geben. Den Berichten zufolge seien Deutschland zuletzt „circa 9,28 Prozent aller Gesamtfähigkeiten zugewiesen“ worden. Bereits mit Beteiligung der USA würde dies die Bereitstellung von zwölf statt der bislang vorgesehenen neun Brigaden durch die Bundeswehr – einschließlich der Deutsch-Französischen und der künftigen Panzerbrigade 45 in Litauen – bedeuten.

Da die Planer nach denselben Berichten davon ausgehen, dass man fünf bis sechs weitere Kampftruppenbrigaden stellen müsse, wird aber offenbar nicht jede Fähigkeit gleichmäßig verteilt. Besondere Hochwertfähigkeiten – etwa Satellitenaufklärung und Langstrecken-Präzisionsschläge – dürften nur von einigen Partnern mit entsprechenden Ressourcen übernommen, andere dagegen stärker mit „normalen“ Aufgaben betraut werden. Erschwerend für eine Neuberechnung kommt hinzu, dass solche Hochwertfähigkeiten bislang stark von den USA zur Verfügung gestellt wurden, aber bei ihrem Rückzug mehr als bislang von anderen Partnern wie Deutschland übernommen werden müssten.

Panzerfahrzeuge der Deutsch-Französischen Brigade unter gegenseitiger Sicherung im Gelände.
Panzerfahrzeuge der Deutsch-Französischen Brigade unter gegenseitiger Sicherung im Gelände. (Foto: Bundeswehr/Carl Schulze)

50 neue Brigaden sind eher zu kurz gedacht

Schon der bislang geplante Aufwuchs umfasst jedoch 49 zusätzliche Brigaden, die Europa nach einem möglichen amerikanischen Rückzug allein stellen müsste. Der Ersatz der bisher auf dem Kontinent stationierten und zur Verstärkung vorgesehenen Verbände käme noch hinzu, so dass der Gesamtumfang tatsächlich über 50 liegen dürfte. Zieht man bei allen oben genannten Einschränkungen das Verhältnis von 300.000 US- zu 1,47 Millionen europäischen Soldaten als Maßstab heran, haben die USA bislang knapp 17 Prozent aller Streitkräfte zur Verteidigung Europas gestellt. Betrachtet man die Formel zur anteiligen Finanzierung des NATO-eigenen Haushalts, die auf der jeweiligen Wirtschaftsleistung der Mitglieder und einigen anderen Faktoren beruht, beträgt der amerikanische Anteil derzeit 15,88 Prozent.

Grob gesprochen würde ein US-Rückzug also die Stärke der europäischen Verteidigung um ein Sechstel verringern. Umgekehrt heißt das, dass die Europäer ihre Beiträge um 20 Prozent erhöhen müssten. Statt künftig 14 bis 15 wäre daher eher von 18 deutschen Brigaden auszugehen – also eine Verdopplung des gegenwärtigen Planungsstands von neun. Da die deutschen Streitkräfte aufgrund der mittlerweile sehr tiefen Integration stets zusammen mit den niederländischen gedacht werden müssen, kämen ausgehend vom jetzigen Stand von drei voraussichtlich sechs Brigaden der Niederlande hinzu. Gemeinsam mit den Partnernationen wäre dies ein Gesamtumfang von 24.

Einheitliche Großverbände als Rückgrat der Verteidigung

Bei Fortschreibung der jetzigen Struktur entspräche dies sechs bis acht Divisionen in zwei Korps. Wobei die Bundeswehr gemäß der Berichte über die Erhöhung der Minimum Capability Requirements ohnehin davon ausging, einen zweiten Korpsstab und entsprechende Unterstützungstruppen stellen zu müssen. Während diese Überlegungen vermutlich davon ausgingen, im Einsatz Verbände auch weiterer Verbündeter zu führen, bestünden diese Korps jedoch aus bereits integrierten deutschen und niederländischen Verbänden sowie der Deutsch-Französischen Brigade. Damit erledigte sich in diesem Fall wohl auch das Problem der geringeren Kampfkraft zersplitterter europäischer Streitkräfte gegenüber einheitlich geführten US-Truppen.

Ein Fahrzeug des deutschen Seebataillons wird bei einer gemeinsamen Übung mit dem Korps Mariniers von einem niederländischen Landungsboot angelandet.
Ein Fahrzeug des deutschen Seebataillons wird bei einer gemeinsamen Übung mit dem Korps Mariniers von einem niederländischen Landungsboot angelandet. (Foto: Bundeswehr/Christian Thiel)

Ob dies weiter gesteigert würde, wenn die bislang deutschen Divisionskommandos unterstellten Niederländer bei einem solchen Ausbau auch wieder eigene nationale Divisionen stellen, wäre zu überlegen. Noch nicht eingeschlossen wäre möglicherweise eine vollständig ausgebaute binationale Marineinfanteriebrigade, da auch zwischen dem niederländischen Korps Mariniers und dem deutschen Seebataillon bereits ein Integrationsverhältnis besteht. Insgesamt würden die deutsch-niederländischen Streitkräfte so etwa 19 Prozent der europäischen Landstreitkräfte stellen. Im Verbund mit anderen starken Heeren wie dem französischen und polnischen wäre dies ein robustes Rückgrat für eine Verteidigung Europas ohne die USA.

Kein Weg mehr vorbei an der Wehrpflicht

Vom Personalumfang wurden bereits die ursprünglichen deutschen Pläne für acht bis zehn Heeresbrigaden auf erforderliche 230.000 bis 250.000 Mann für die gesamte Bundeswehr geschätzt. Offiziell blieb das Ziel bei 203.000, obwohl mit der Wiedereinführung einer sechsjährigen Wiedereinberufungsperiode für ausscheidende Soldaten noch unter Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer der Aufbau eines Pools von 60.000 schnell verfügbaren Reservisten erreicht wurde. Nach Erhöhung der Minimum Capability Requirements wurde ein zusätzlicher Bedarf von 75.000 Mann angenommen. Die Gesamtstärke stiege damit auf bis zu 320.000. Bei einer weiteren Erhöhung von 14 bis 15 auf 18 Brigaden wäre mit mindestens 340.000 zu rechnen – den Ausbau anderer Teilstreitkräfte noch nicht eingerechnet.

Insgesamt würde sich der Friedensumfang so der vom Zwei-plus-Vier-Vertrag vorgegebenen Obergrenze von 370.000 nähern. Allerdings müssten nicht alle Verbände aktiv sein, wie ja auch amerikanische Verstärkungen zu mobilisierende Truppen der Nationalgarde einschließen könnten. Zumal bei der Bundeswehr zusätzlich zu den Kräften für die Bündnisverteidigung Zahlen von etwas über 100.000 Mann für den Heimatschutz im Gespräch sind. Bereits bei der Vorstellung des Konzepts für einen neuen Wehrdienst im vergangenen Sommer war von 460.000 Mann Verteidigungsumfang die Rede, der vermutlich auch eine Ersatzreserve für Verluste einschloss. Ohne die USA würde dies sehr wahrscheinlich die halbe Million erreichen. An einer Wehrpflicht würde spätestens dann kein Weg mehr vorbeiführen.

Stefan Axel Boes

 

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