Kriegstüchtigkeit des Deutschen Heeres im Spannungsfeld zwischen derzeitiger und zukünftiger Bedrohungslage
Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine herrscht in der Politik und den Streitkräften Konsens darüber, dass die Bundeswehr schnellstmöglich wieder vollumfänglich zur Landes- und Bündnisverteidigung befähigt werden muss. Die tatsächliche Verfügbarkeit schlagkräftiger, einsatzbereiter Streitkräfte ist dabei nicht nur Fundament für ein erfolgreiches Bestehen auf dem Gefechtsfeld, sondern auch das glaubwürdigste Mittel zur Abschreckung Russlands. Dazu werden Prozesse kritisch hinterfragt und veraltete Strukturen ohne Denkverbote aufgebrochen, um Kohäsion, Kaltstart- und Durchsetzungsfähigkeit und damit Kriegstüchtigkeit zu erreichen.
Das Zielbild Heer passt sich dynamisch den Forderungen an Landstreitkräfte im Krieg an. Die Aufstellung der Panzerbrigade 45 in Litauen beispielsweise erfolgt in außergewöhnlich hohem Tempo, neue persönliche Ausrüstung erreicht die Truppe, Rüstungsprojekte nehmen Fahrt auf und Ausbildungsgänge werden den absehbaren Notwendigkeiten flexibel angepasst. Doch trotz des Erreichten steht die Frage im Raum, ob die Fortschritte vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Bedrohungslage schnell genug erfolgen? Mit Blick auf die aktuelle Situation in der Ukraine stehen die ukrainischen Streitkräfte unter permanentem Druck.
Russland hat seine Kriegswirtschaft mobilisiert und die Annahme des zunehmenden Verschleißes russischer Ressourcen hat sich bisher als zu optimistisch erwiesen. Bereits in vier Jahren könnten die Rekonstitution und der Aufwuchs der russischen Streitkräfte abgeschlossen sein. Ein vollumfänglicher Angriff Russlands auf einen NATO-Staat könnte trotz anhaltender Bindung russischer Truppen im Ukrainekrieg bereits 2029 erfolgen, eine begrenzte russische Aggression sogar jederzeit. Hierdurch könnte die politische Kohäsion der NATO ernsthaft gefährdet werden. Die Übernahme des Auftrages Division 2025 seit dem 1. Januar 2025 und die Bereitstellung von weiteren Kräften in höchster und hoher Einsatzbereitschaft durch das Deutsche Heer impliziert, dass wir im Auftrag gebunden sind – es kann jederzeit losgehen. Unsere Landstreitkräfte müssen folglich schneller an Kriegstüchtigkeit gewinnen. Wenn Russland uns angreifen will, wird es sicherlich nicht warten, bis wir mit unseren Bemühungen zur Wiedererlangung der Fähigkeiten zur Landes und Bündnisverteidigung abgeschlossen haben. Daher müssen wir bereits heute ohne Einschränkungen einsatzbereit sein – ready to fight tonight.
Kriegsbild für den Kampf heute versus Kriegsbild der Zukunft
Wie Mittel und Handlungsmöglichkeiten zur Erreichung dieses Ziels priorisiert und eingesetzt werden, hängt von der Bewertung ab, wie sich ein Krieg gestalten wird und vor allem, wann er geführt werden muss. Russland strebt nach Wiedererlangung eines Großmachtstatus auf Kosten seiner westlichen Nachbarn – ein Ziel, das nur über eine Auseinandersetzung mit der NATO zu erreichen sein wird. Wir werden bereits täglich mittels Cyberaktivitäten sowie Aufklärung gegnerischer Kräfte, aber auch Spionage, Sabotage und Desinformation angegriffen. Die scharfen Trennlinien unseres klassischen Verständnisses des Kontinuums von Frieden, Krise und Krieg verschwimmen zunehmend durch hybrides Vorgehen – eine konstante Auseinandersetzung ist die Folge. Diese Bewertungen und das daraus abzuleitende Kriegsbild bieten somit den Referenz- und Orientierungsrahmen für unser tägliches Handeln jetzt und mit Blick in die Zukunft.
Für eine ganzheitliche Betrachtung sind alle Facetten eines hypothetischen gegenwärtigen und zukünftigen Krieges einzubeziehen und für die Fähigkeits-, Struktur- und Doktrinentwicklung von Streitkräften zu operationalisieren. Aus der strategischen Vorausschau des Planungsamtes der Bundeswehr werden heute Kriegsbilder für die 2040er-Jahre abgeleitet. Dies ist in Anbetracht jahrelanger Beschaffungsvorgänge und jahrzehntelanger Nutzungszeiten eine wichtige Grundlage zur Konzeption, Auswahl und Priorisierung von Waffensystemen für zukunftsfeste Streitkräfte. Jedoch darf der Plan für zukunftsfeste Streitkräfte nicht der notwendigen Einsatzbereitschaft von Streitkräften im Hier und Jetzt zuwiderlaufen. Unter der derzeitigen Bedrohungslage und der knappen Zeit zur Herstellung unserer Kriegstüchtigkeit reicht es nicht mehr, das potenzielle Gefechtsfeld der Zukunft zu analysieren und zur Priorisierung heranzuziehen. Vielmehr sind wir in Anbetracht der derzeitigen Bedrohungslage dazu angehalten, das derzeit zu erwartende Kriegsbild für die Zeit bis 2029 als Maßstab für unsere Priorisierungsentscheidungen anzulegen.