Nach dem weitgehend erwarteten Ausgang der Bundestagswahl hat der designierte neue Bundeskanzler Friedrich Merz zügige Verhandlungen über eine Regierungsbildung mit dem bevorzugten Partner SPD angekündigt. Angesichts der innen-, vor allem aber außen- und sicherheitspolitischen Herausforderungen ist jedem bewusst, dass es keine Zeit zu verlieren gilt. Deutschland ist mit ganz Europa zwischen einem weiterhin aggressiven Putin-Russland und einem irrlichternden Trump-Amerika eingeklemmt. Wohl oder übel kommt auf Merz eine Führungsrolle bei der Bewältigung dieser Situation zu. Ob er sie ausfüllen kann, muss er erst noch beweisen. Den richtigen Weg hat er schon vorgegeben, als er einerseits die schrittweise Unabhängigkeit Europas von den USA zur obersten Priorität erklärte, andererseits aber auch alles für den Erhalt des transatlantischen Verhältnisses zu tun gelobte.
Abhängig von der Definition des transatlantischen Verhältnisses können diese beiden Aussagen durchaus im Widerspruch zueinander stehen. Unterschiedliche Definitionen auf beiden Seiten des Atlantiks sind jedenfalls absehbar. Solange man weiterhin so eng zusammenarbeitet wie möglich, aber in Europa eigene Wege geht wo nötig, wird sich das aushalten lassen. Die kommende Regierung Merz muss dafür zunächst in Deutschland die Grundlagen schaffen. Für die Verteidigungspolitik heißt das: Geld, Personal, Beschaffung, Organisation. Und das nicht nacheinander, sondern möglichst gleichzeitig. Obwohl die Geldfrage nach verbreiteten Spekulationen noch dem alten Bundestag vorgelegt werden könnte, um bei den möglichen Lösungen durch neue Sondervermögen oder Reform der Schuldenbremse einer künftigen kombinierten Sperrminorität von links und rechts zuvorzukommen.
Wer die Wahl gewinnt, braucht für den Druck nicht zu sorgen
Laut Grundgesetz muss sich das neue Parlament innerhalb von 30 Tagen nach der Wahl, also spätestens am 25. März konstituieren. Das bedeutet zusätzlichen Druck für eine Einigung. Diese muss nicht nur der für Ostern angestrebten Regierungsbildung vorangehen, sondern für die notwendige Zweidrittelmehrheit auch noch die Grünen einschließen. Eine bereits kolportierte Summe von weiteren 200 Milliarden Euro Sondervermögen dürfte dabei eher die Untergrenze darstellen, bis die notwendigen Ausgaben durch den regulären Verteidigungshaushalt abgedeckt werden. Will man die Schuldenbremse nicht anfassen, wird eine dauerhafte Lösung dafür absehbar lediglich in die nächste Legislaturperiode ab 2029 verlagert. Möglicherweise in der Hoffnung auf andere Mehrheitsverhältnisse – dann allerdings auch im Angesicht der von Noch-Verteidigungsminister Boris Pistorius gesetzten Deadline für die Kriegstüchtigkeit der Bundeswehr.
Apropos. In Berliner Parteikreisen hieß es bereits vor der Wahl, dass Pistorius auch in einer CDU-geführten Koalition mit der SPD im bisherigen Amt bleiben könnte. Hintergrund sind nicht nur die parteiübergreifende Anerkennung für seine Arbeit als Verteidigungsminister in der Zeitenwende, sondern auch darüber hinausgehende parteipolitische Überlegungen zur Ressortaufteilung für eine Weiterentwicklung der deutschen Sicherheitsarchitektur. Denn nach der üblichen Koalitionsarithmetik würde dann erstmals seit Gerhard Schröder (nicht der, der andere) in den Kabinetten Adenauer IV sowie Ehrhard I und II das Außenministerium wieder der Union zufallen. Dort verspricht man sich eine störungsfreie Zusammenarbeit mit dem Kanzleramt in Fragen wie der Einrichtung eines Nationalen Sicherheitsrates.
Minister und sonstiges Personal
Dass der Stuhl des Verteidigungsministers eine von Tatsachen gestützte Reputation als Schleudersitz hat, mag angesichts der anstehenden Herausforderungen ebenfalls eine Rolle spielen – und spricht eher dagegen, dass die SPD ihn auch will. Allerdings stehen noch viel weitgehendere Personalangelegenheiten auf dem Programm, nämlich die künftige Stärke der Bundeswehr. Absehbar ist ein neuer Wehrdienst, der über das von CDU/CSU als unzureichend abgelehnte Pistorius-Modell einer bloßen Fragebogen-Pflicht hinausgeht. Dass mehr erforderlich werden wird, ist nahezu sicher. Schneller wird der Aufbau der benötigten Unterbringungs- und Ausbildungskapazitäten der Bundeswehr aber nicht werden. Eher hat die Union durch ihre Ablehnung nach dem Ampel-Aus den notwendigen Wiederaufbau der Strukturen für Wehrerfassung noch um mindestens ein halbes Jahr verzögert. Auch hier steht man also nun unter zusätzlichem Druck.

Wenn es eine gute Nachricht in dieser Zwangslage gibt, dann diese: Mit einem sich abzeichnenden Friedensumfang jenseits der 300.000 – möglicherweise bis zur vom Zwei-plus-Vier-Vertrag vorgegebenen Grenze von 370.000 – erledigen sich allzu große Verrenkungen, um die vom Verfassungsgericht geforderten Prinzipien der Wehrgerechtigkeit zu erfüllen. Solche Stärken wies die Bundeswehr zuletzt zur Zeit der Heeresstruktur 5 (N) in den 90er Jahren auf, als die Dauer des Grundwehrdienstes noch zwölf Monate betrug und jedes Jahr mehr als 100.000 junge Männer eingezogen wurden. Angesichts gegenwärtiger Jahrgangsstärken von etwa 350.000 wäre das noch immer eine Minderheit, die sich aber durch zivile Alternativen zur Ableistung eines Pflichtdienstes ausbalancieren ließe.
Der Teufel im Detail
Der Teufel bliebe im Detail wie den Fragen nach der Geschlechtergerechtigkeit, ob Wehrpflichtige auch bei zwölfmonatiger Grundwehrdienstzeit einen hinreichenden Ausbildungsstand für die Bedingungen des modernen Gefechts erreichen können, ob sie selbst im Rahmen der Bündnisverteidigung außerhalb Deutschlands stationiert und eingesetzt werden könnten und sollten, und wie die Organisation der Streitkräfte das abbilden muss. Am Ende werden sich passende Aufgaben für jeden finden lassen, zumal die junge Generation viele technische Fähigkeiten schon mitbringt. Die Hoffnung bleibt, dass die Erfahrung Bundeswehr positiv genug für eine ausreichende Zahl von ihnen ist, um sich für größere Herausforderungen weiter zu verpflichten. Und dass es nie zu einer Situation kommt, in der solche Unterscheidungen sich erübrigen.
Dass jede personelle Stärkung auch materiell, und damit finanziell, hinterlegt werden muss, bedarf keiner Erläuterung. Für den Extremfall der Unabhängigkeit von den USA kommen zusätzlich notwendige Fähigkeiten hinzu. Insbesondere in den Bereichen Führung, Kommunikation und Aufklärung sowie Langstrecken-Präzisionsschläge. Über allem schwebt das Gespenst wenn nicht deutscher, so doch europäischer Nuklearwaffen, um einen möglichen Wegfall des amerikanischen Schutzschirms zu kompensieren. Die notwendige deutsche Beteiligung daran wäre wahrscheinlich nicht nur der größte Kostenpunkt von allen, sondern auch politisch und organisatorisch am schwierigsten zu bewerkstelligen. Um eine Führungsrolle käme Deutschland als größter europäischer Akteur aber dabei ebenfalls nicht herum – trotz oder gerade wegen seiner eigenen mehrfach vertraglich festgelegten Rolle als Nicht-Nuklearmacht.
Die europäischen Pole (wie Polen)
Ohnehin ist die kommende Bundesregierung zur Führung in Europa verdammt, auch wenn weder die eigenen Wähler noch anderer Europäer je von dieser Idee begeistert waren. Außer der Position als bevölkerungsreichstes Land und stärkste Wirtschaftsmacht kommt noch die traditionelle Mittlerrolle Deutschlands zwischen verschiedenen Lagern hinzu – den Transatlantikern und Eurozentrikern, den West-, Ost- und Südeuropäern mit ihren unterschiedlichen Vorstellungen von Gemeinschaftspolitik und Polen (pl.) wie Großbritannien, Frankreich und Polen (sg.). Absehbar wird ein Bundeskanzler Merz sich also nicht nur mit einem Präsidenten Trump befassen müssen, der heute seinen ukrainischen Kollegen als Diktator und Schuldigen am russischen Angriffskrieg bezeichnet, morgen besetzte Gebiete wie Mariupol für ihn von Russland zurückgewinnen will, und ihm übermorgen vor laufenden Kameras mangelnde Dankbarkeit vorwirft.
Merz wird auch zwischen denjenigen Europäern vermitteln müssen, die notfalls bilaterale Vereinbarungen zulasten der Gemeinschaft mit den USA abschließen würden; denen, die die amerikanische Führungsrolle ebenfalls zulasten der Gemeinschaft nicht schnell genug beenden könnten; und denen, die sich ohnehin eher an der Seite Russlands und Chinas sehen. All das wird aber nur funktionieren, wenn Deutschland auch militärische Fähigkeiten vorweisen kann, die ihm Glaubwürdigkeit als zuverlässiger Bündnispartner in geteilter Verantwortung mit Mächten wie Frankreich und Großbritannien verleihen. Dabei sind innenpolitische Probleme des künftigen Bundeskanzlers, die lahmende Wirtschaft und das Spaltungspotenzial in der eigenen Gesellschaft natürlich gar nicht erst erwähnt. Es hat ihm aber auch vor der Wahl keiner versprochen, dass es einfach wird.
Stefan Axel Boes