Wenn die Sonne tief steht, so heißt es, werfen auch Zwerge lange Schatten. Schaut man auf die Geschichte von Konferenzen in München zurück, möchte man sagen: Selbst Neville Chamberlain, der hier 1938 „Frieden in unserer Zeit“ erreichen wollte – aber es nur als Illustration für den Begriff „Appeasement“ in die Geschichtsbücher schaffte – erscheint gegenüber diversen Protagonisten im Umfeld der diesjährigen Sicherheitskonferenz als geistiger Riese. Und das bezieht sich nicht nur auf US-Vizepräsident J. D. Vance, der vor der versammelten Weltöffentlichkeit ein Best-of von Fake News und Halbwahrheiten aus dem Internet vortrug. Oder Verteidigungsminister Pete Hegseth, der zuvor bei der Ukraine-Kontaktgruppe in Brüssel eben mal mögliche Positionen für Verhandlungen mit Russland zur Beendigung des Ukraine-Krieges räumte. Bevor letztere überhaupt begonnen hatten.
Auch die Europäer, die seit dem ursprünglichen Beginn dieses Krieges 2014, spätestens aber seit 2022 Zeit hatten, aus der Zwergenrolle gegenüber den USA zumindest zu halbwegs kampftauglichen Höhlentrollen heranzuwachsen: sie machten keine überragende Figur. Das hastige Treffen in Paris Anfang der Woche, um auf französische Initiative Antworten zur in München angekündigte Abkehr der Amerikaner von Europa zu finden, verstärkte diesen Eindruck. Es half natürlich nicht, dass Deutschland unmittelbar vor Wahlen steht und Kanzler Olaf Scholz kaum die Autorität für klare Aussagen hatte. Wenn Pläne für ein Investitionspaket „das es in dieser Dimension noch nie gegeben hat“ angeblich erst nach der Wahl bekannt gegeben werden sollen, kommt das zu spät, um dem Eindruck europäischer Uneinigkeit und Überforderung in der Sicherheitspolitik entgegenzuwirken.
Das Hamlet-Prinzip
Man kann natürlich auch das völlige Chaos auf amerikanischer Seite beklagen. Der Ukraine-Beauftragte Keith Kellogg schließt die Europäer von Verhandlungen zur Ukraine aus, obwohl er ihnen gleichzeitig die Sicherung eines Waffenstillstands allein überlassen will. Außenminister Marco Rubio widerspricht. Präsident Donald Trump schickt keinen von beiden nach Moskau, sondern lässt seinen alten Geschäftsfreund und Golfkumpel Steve Witkoff – eigentlich Sondergesandter für den Nahen Osten – ein russisch-amerikanisches Treffen in Saudi-Arabien aushandeln. Trump selbst sagt wie immer, was ihm gerade in den Sinn kommt: Sein ukrainischer Kollege Wolodymyr Selenskyj sei schuld am russischen Angriffskrieg; die Ukraine müsse mit Wirtschaftskonzessionen im Umfang von bis zu 500 Milliarden Dollar für die bisherige US-Hilfe zahlen (tatsächlicher Stand zum Jahresende: knapp 120 Milliarden); etc.

Noch haarsträubender aus europäischer Sicht: Trump deutet an, Wladimir Putin den Abzug amerikanischer Truppen aus den baltischen Staaten „und womöglich noch weiter westlich“ anbieten zu wollen. Also die völlige Kapitulation vor Putins Forderungen vor dem Einmarsch in die Ukraine, deren Unerfüllbarkeit bereits als Rechtfertigung für den Angriff eingeplant war. Am nächsten Tag dementiert er sich selbst und sagt, niemand habe ihn um einen Abzug aus Europa gebeten, also sehe er nicht, warum er das tun solle. Fast hoffnungsvoll möchte man sagen: „Ist dies schon Wahnsinn, so hat es doch Methode“, und auf Trumps bekannt disruptive Verhandlungstaktik mit völlig überzogenen Eingangsforderungen verweisen. Selbst das Wiederkäuen russischer Propaganda vom „Diktator Selenskyj“ scheint eher Reaktion auf die Ablehnung seiner 500-Milliarden-Rechnung zu sein.
Zurück zum Zeichenbrett
Am Ende ist noch so beredte Klage über all das zwar befreiend, hilft aber anderweitig nichts. Also zurück zum lösungsorientierten Ansatz auf Faktenbasis. Alle Grundlage für die künftige US-Politik gegenüber Europa werden amerikanische Interessen bleiben. Das bedeutet: die Europäer müssen ihren Akt dort zusammenkriegen, wo diese keine hinreichende Übereinstimmung mit ihren eigenen aufweisen, um auch zu amerikanischem Engagement zu führen. Andererseits müssen sie bildungsfernen Schichten in der Trump-Administration, die in ihrer Internetblase die eigenen Interessen gar nicht erkennen, vielleicht auch mal mit dem zarten Zwergenhammer den Ausgang aus der Parallelwelt zeigen. Wobei letzteres ebenfalls die Bereitschaft zu erheblichen politischen und materiellen Investitionen erfordert, um glaubwürdig zu sein.
Denn auch die USA müssen sich darüber klar werden, was sie wollen. Wollen sie weiterhin über europäische Basen „power projection“ nach Afrika, den Nahen Osten und Westasien betreiben – auch, um den Verbündeten Israel zu unterstützen? Wollen sie die Schifffahrtswege vom Atlantik durch das Mittelmeer und den Suezkanal zum Indischen Ozean kontrollieren? Wollen sie sich bei der Raketenabwehr auf Standorte der Verbündeten abstützen? Wenn das wie bisher im Rahmen der NATO geschehen soll, ist die Bündnisverteidigung nicht optional, sondern zwingendes Erfordernis. Wenn sie anstelle der NATO neue Abkommen mit einzelnen Partnern aushandeln wollen, wird das für sie nicht unbedingt billiger. Und für Europa insgesamt nicht unbedingt weniger sicher.

Wenn ein Deal kein Schnäppchen ist
Schließlich sind die Verbündeten mit dem größten Sicherheitsbedürfnis, die den Amerikanern sicher am weitesten entgegenkommen würden, diejenigen die Russland am nächsten liegen. Würden etwa Polen und Rumänien separate Vereinbarungen treffen – Polen hatte dies während der vorletzten US-Präsidentschaft ja schon einmal mit einem „Fort Trump“ und der allerdings eher bescheidenen Selbstbeteiligung von zwei Milliarden Dollar an den Kosten versucht – müssten die USA trotzdem erhebliche Mittel für die Verlegung von den lange etablierten Stützpunkten in Deutschland aufwenden. Deutschland seinerseits könnte sich auch ohne NATO im Schatten Polens nicht nur relativ entspannt zurücklehnen, sondern wäre auch der Verpflichtungen zum Host Nation Support und der Sicherung des Nachschubs für die Ostflanke ledig. Beziehungsweise könnte diese nach Trump-Manier in Rechnung stellen.
Natürlich hat Deutschland selbst den Schutz insbesondere Litauens übernommen. Aber als Argument gegenüber möglichen US-Vorstellungen von „besseren Deals“ bleibt das Prinzip richtig. Es wäre auch nicht das erste Mal, dass deutsch-amerikanische Meinungsverschiedenheiten praktische Konsequenzen haben. Etwa als die amerikanische Seite deutsche Bedenken, ob die Nutzung der Satelliten-Relaisstation in Ramstein zur Steuerung bewaffneter Drohneneinsätze aus den USA gegen deutsches Recht verstieß, nicht durch entsprechende Informationen ausräumen konnte oder wollte. Diese wurde ab 2018 ins italienische Sigonella verlegt. Ersatz für den gesamten Lufttransportknotenpunkt Ramstein samt angeschlossener Einrichtungen wie das Landstuhl Regional Medical Center zu schaffen, das bis 2028 für knapp 800 Millionen Euro an einen neuen Standort nahe der Airbase verlegt wird, wäre zeit- und kostenintensiv.
Vorbereitung für den Extremfall
Und doch: Nicht ausgeschlossen, dass die USA ihre mit Europa verknüpften Interessen am Ende ebenfalls aufgeben. Beziehen die Klagen über teure und undankbare Verbündete irgendwann Israel mit ein – durchaus möglich, wenn die seit den 1960er Jahren in diesem besonderen Verhältnis sozialisierte Generation von Amerikanern wegstirbt – entfällt auch dessen Schutz als Grund. Und jeder kennt mittlerweile Menschen, die in ihrer Parallelwelt aus Internet-Pseudofakten nicht mehr zu erreichen sind. Dass der sich abzeichnende Kurs der neuen US-Regierung die amerikanische Position in der Welt mit ziemlicher Sicherheit mittel- bis langfristig schwächen und zu konkreten Nachteilen für das eigene Land führen wird, ist für sie erst eine zukünftige Erfahrung. Auf mögliche Auswirkungen muss sich Europa bereits jetzt vorbereiten.

Was bedeutete der Extremfall „NATO ohne USA“ für Deutschland? Auf der Bündnisebene: Die bewährten Strukturen nach dem Ausfall der Führungsmacht retten. Und einen Weg der geteilten Verantwortung mit den anderen wichtigsten Akteuren – insbesondere Frankreich und Großbritannien – finden, um die Einbindung von Nicht-EU-Mitgliedern einschließlich Kanadas in die gemeinsame Sicherheit zu erhalten. Dazu gehörte auch, einen ausreichenden Ersatz für den nuklearen Schutzschirm der USA aufzubauen. Ansätze dazu, die Frankreich und Großbritannien als die eigentlichen Atommächte belassen, gibt es. Als größte verbleibende Wirtschaftsmacht würde sich Deutschland aber an der Finanzierung eines erweiterten Arsenals und umgekehrt auch an den Entscheidungsmechanismen für dessen möglichen Einsatz beteiligen müssen.
Auf Wiedersehen in München
Auch in allen anderen Bereichen würde es den Willen zur Führung geben müssen, die im vielstimmigen Bündnis ohne den übergroßen Europa-Außenseiter USA schwer genug würde. Und natürlich wäre schlichte militärische Masse erforderlich. Möglicherweise bis zur durch den Zwei-plus-Vier-Vertrag vorgegebenen Grenze von 370.000 Mann Friedensstärke der Bundeswehr. Damit praktisch unausweichlich mit voller Reaktivierung der Wehrpflicht – nicht nur als skandinavisches Auswahlmodell, nicht nur mit wenigen Monaten Dienst im Heimatschutz. Das würde vielleicht zumindest vorübergehend Verteidigungsausgaben jenseits von drei oder auch dreieinhalb Prozent der Wirtschaftsleistung erfordern. Denkbar wäre eine jährliche Steigerung vom jetzigen Stand um einen halben Prozentpunkt jährlich bis zur Fünf-Prozent-Marke, bevor die Mittel zur Erhaltung des dann geschaffenen Fähigkeitslevels wieder zurückgehen könnten.
Ob das über weitere Sondervermögen oder eine Lockerung der Schuldenbreme finanziert würde, fällt unter Auftragstaktik. Der Auftrag an die nächste Bundesregierung allerdings ist klar: die nationale Grundlage dafür zu schaffen, dass Europa seine Sicherheit mittelfristig auch ohne die USA organisieren könnte, wenn es müsste. Und sei es nur, um als Sicherheitspartner endlich ernst genommen zu werden. Und Amerika damit letztlich im Bündnis zu halten, gleichzeitig aber die eigenen Interessen nachdrücklicher vertreten zu können. Dann könnte man es notfalls mit Diogenes halten und beim nächsten Zwergenaufstand in München sagen: „Geh mir aus der Sonne“.
Stefan Axel Boes