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70 Jahre deutsche NATO-Mitgliedschaft: Wie kollektiv ist unsere Sicherheit noch?

NATO-Treffen zum 75-jährigen Bestehen des Bündnisses in Washington 2024. (Foto: Weißes Haus)
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„We must, indeed, all hang together or, most assuredly, we shall all hang separately.“ – Benjamin Franklin zugeschrieben

In diesem Mai jährt sich der Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zur NATO zum 70. Mal. Mit Blick auf die Krisen und Kriege rund um Europa lässt sich feststellen, dass das Bündnis niemals in den letzten 35 Jahren wichtiger war als heute. Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass es zugleich niemals im selben Zeitraum stärker in Frage gestellt wurde. Nach dem Ende des Kalten Krieges wurde zwar vielfach kritisiert, dass es seinen Daseinszweck verloren habe. Das hat die akute Bedrohungssituation infolge des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine seither natürlich spektakulär widerlegt. Aber vielleicht gerade deshalb erhalten Bestrebungen zu seiner Schwächung bis hin zur Zerstörung, die auf Partikularinteressen sowohl inner- als auch außerhalb der NATO beruhen, derzeit Auftrieb.

Das gilt naturgemäß für Akteure wie Russland, die auch ihren Einfluss auf Kritiker und Unzufriedene auf allen Ebenen innerhalb des Bündnisses nutzen. Neu ist das nicht, lediglich die Fortsetzung des gleichen Verhaltens während des Kalten Krieges. Dass die amerikanische Regierung die NATO-Mitgliedschaft der USA infrage stellt, ist in dieser Form vielleicht ein Novum. Die zugrundeliegende Auseinandersetzung zwischen (vor allem) Amerikanern und Europäern über Lastenteilung durchzieht aber die gesamte Geschichte der Allianz. Wobei man nicht so tun sollte, als wäre das eine Einbahnstraße. Populistische Klagen während des amerikanischen „Krieges gegen den Terror“, dass die USA ihre „europäischen Vasallen“ als Lieferanten von Hilfstruppen zur Durchsetzung ihrer globalen Dominanz benutzten, gehören ebenso dazu.

Missverständnis der kollektiven Sicherheit

Ihren Widerhall findet diese Haltung in der Meinung unter gegenwärtigen Kritikern der westlichen Unterstützung für die Ukraine, dass die USA hier ihre Interessen gegen Russland auf Kosten der Europäer durchsetzten. Oder sogar zwei politische und wirtschaftliche Konkurrenten mit einer Klappe schlügen, da die europäische Wirtschaft aufgrund ihrer engeren russischen Verfechtungen viel stärker unter dem westlichen Sanktionsregime leide. Zugleich unterstütze Europa die Ukraine in Geld und Anteil der Wirtschaftsleistung ausgedrückt weit mehr und habe zudem große Kosten durch die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge.

Amerikanische Truppen in Hessen während der Übung REFORGER 1985.
Amerikanische Truppen in Hessen während der Übung REFORGER 1985. (Foto: Fernando Serna)

Dieses sachlich nicht falsche, aber in der Stoßrichtung erkennbar russisch geprägte Narrativ baut also auf einer bereits vorhandenen Unzufriedenheit über die Kräfteverteilung im Bündnis auf. Die ihrerseits ignoriert, dass die USA tatsächlich jahrzehntelang mit großem finanziellen und auch personellen Einsatz zur europäischen Sicherheit beigetragen haben. Der Ursprung solcher Kritik sowohl von amerikanischer wie auch europäischer Seite liegt letztlich in einem Missverständnis über den Begriff der kollektiven Sicherheit. Richtig interpretiert bedeutet dieser, dass die Summe im Bündnis größer ist als seine Teile. In diesem Verständnis spielt es beispielsweise keine Rolle, dass ein Großteil der amerikanischen Mittel auf die Pazifikregion und andere Teile der Welt als Europa gerichtet ist.

Praktische Grenzen des Prinzips

Das gleiche gilt dafür, dass Amerikas NATO-Partner nach dem einzigen praktischen Bündnisfall in der Geschichte der Allianz über 20 Jahre hinweg insgesamt mehr als 600.000 Soldaten nach Afghanistan entsandt haben. Was die Welt für einen Bündnispartner sicherer macht, macht sie nach diesem Ansatz für alle sicherer.  Die europäische Beteiligung am „War on Terror“ nach den Anschlägen vom 11. September 2001 gegen die USA war logisch damit begründet, dass der internationale Terrorismus von Al-Qaida mit der Operationsbasis Afghanistan eine Bedrohung für die gesamte westliche Welt darstellte. Auch wenn diese Beteiligung die NATO-Partner selbst stärker in den Fokus von Terroristen rückte: kollektive Verteidigung als praktischer Ausdruck von kollektiver Sicherheit bedingt auch ein kollektives Risiko für die Bündnispartner.

Dieses Prinzip, vom damaligen US-Verteidigungsminister Robert McNamara 1965 zu Beginn des Vietnamkrieges etwas überzogen mit „Berlin wird am Mekong verteidigt“ beschrieben, hat in der Praxis natürlich Grenzen. Aus gutem Grund beteiligte sich die NATO als Organisation nicht an dem schlecht begründeten und schließlich kontraproduktivem Irak-Krieg. Dieser verstärkte nicht nur die Terrorgefahr im naheliegenden Europa zusätzlich und weit mehr als in den USA. Er destabilisierte die Sicherheitslage zudem durch Folgeeffekte. So die Entstehung der zuvor nicht existierenden Al-Qaida im Irak und schließlich des „Islamischen Staates“, dessen Völkermord an den Jesiden und Beteiligung am syrischen Bürgerkrieg mit den dadurch ausgelösten Massenfluchtbewegungen.

Deutsche ISAF-Patrouille 2009 bei Masar-e Scharif.
Deutsche ISAF-Patrouille 2009 bei Masar-e Scharif. (Foto: ISAF PAO)

Wer profitiert von wem?

Die NATO kam erst wieder bei Versuchen ins Spiel, diese Folgen unter Kontrolle zu bringen. Etwa durch Ausbildungsmissionen für irakische Sicherheitskräfte zwischen 2004 und 2011, und erneut ab 2018 nach dem Aufstieg des „Islamischen Staats“. Andererseits übernahm das Bündnis 2011 die Führung des auf europäische Initiative gestarteten Eingreifens in Libyen, das sich in der Folge auch nicht eben positiv auf die Sicherheitslage im Umfeld Europas auswirkte. In diesem Fall ging die NATO-Übernahme vor allem auf amerikanische Befürchtungen zurück, dass die eigene Rolle als Führungsmacht gegenüber den Europäern sonst Schaden nähme.

In Afghanistan blieb das Bündnis engagiert, bis die USA selbst nach dem Friedensabkommen von 2020 mit den Taliban unilateral ihren Rückzug beschlossen und anschließend ohne Koordination mit den Verbündeten umsetzten. Schlechte Umsetzung macht das Prinzip der kollektiven Sicherheit allerdings nicht falsch. Andernfalls reduziert sich der Bündnisgedanke auf die Frage, welchen Partnern die Allianz „mehr“ nutzt. Die einfache Antwort darauf lautet natürlich: immer denen, die am meisten bedroht sind. Während des Kalten Krieges, und erneut seit den russischen Angriffen auf die Ukraine 2014 und 2022, waren dies die europäischen NATO-Frontstaaten. Diese wären im Ernstfall auch von weiter entfernten Partnern und insbesondere den USA verteidigt worden .

Die Bedeutung der NATO für die amerikanische Sicherheit

Was nicht bedeutet, dass letztere nicht vom Bündnis profitiert hätten – nach dem Prinzip der Vorneverteidigung gegen eine gemeinsame Bedrohung, und insbesondere für die stärkeren Mitglieder auch durch Nutzung des eigenen Einflusses auf das gemeinsame Potenzial zur Verwirklichung eigener Interessen. In diesem Sinne profitierten die USA nach dem Kalten Krieg und gerade während des „War on Terror“ stärker von ihren NATO-Verbündeten. Nicht nur durch deren militärische Beteiligung, sondern auch das Netz von Stützpunkten, die der globalen „power projection“ und teilweise direkt der amerikanischen Sicherheit dienen. So etwa die Frühwarnradars gegen Luft- und Raketenangriffe in Kanada, Grönland und Großbritannien.

Das Frühwarnradar im britischen Fylingdales.
Das Frühwarnradar im britischen Fylingdales ist Teil des amerikanischen Weltraum-Überwachungssystems. (Foto: James T. M. Towill)

Hinsichtlich künftiger Bedrohungen aus dem Nahen Osten wären auch Einrichtungen in Polen, Rumänien und der Türkei sowie die Marinebasis Rota für Schiffe mit Raketenabwehrfähigkeiten in Spanien zu nennen. Dazu kommen die logistischen Drehscheiben und Versorgungseinrichtungen für Einsätze in ganz Europa, Afrika und Westasien wie Ramstein. Oder die Relaisstation für die Steuerung von Drohnen im italienischen Sigonella. Die Rolle der NATO-Führungsmacht sichert den USA zudem politischen Einfluss auf die Gestaltung von Beziehungen auch der europäischen Partner gegenüber dritten Akteuren wie China und dem Iran – selbst wenn deren Interessen nicht unbedingt mit den amerikanischen übereinstimmen. Nicht zuletzt bedeutet das Bündnis auch Märkte für die US-Verteidigungsindustrie.

Drehscheibe Deutschland als Angriffsziel

Dass einzelne Bündnispartner sich ihrer Bedeutung für die USA durchaus bewusst sind, zeigen die trotz aller amerikanischen Forderungen notorisch niedrigen Verteidigungsausgaben etwa des erwähnten Kanada. Dieses Land kann sich aufgrund seiner geografischen Lage der Abdeckung seiner bestehenden Sicherheitsbedürfnisse durch den großen Nachbarn recht sicher sein kann. Ähnliches gilt für die südeuropäischen NATO-Mitglieder Italien, Spanien und Portugal. Diese stellen wichtige Stützpunkte entlang der strategischen Verbindungslinien über den Atlantik und durch das Mittelmeer bereit, auch auf den Azoren. In diesem Sinne hat sich Deutschland nach dem Kalten Krieg ebenfalls lange Zeit implizit auf den Standpunkt gestellt, dass es als unverzichtbare logistische Drehscheibe ohne Bedrohung durch direkte Nachbarn von größerem Wert für die amerikanischen Interessen ist als sich in seiner militärischen Stärke ausdrückt.

Seit der russischen Vollinvasion der Ukraine hat sich dies geändert. Deutschland zeigt zudem insbesondere durch die dauerhafte Stationierung einer Panzerbrigade im NATO-Frontstaat Litauen, dass es letztlich das Prinzip der kollektiven Sicherheit und Verteidigung aus seinen eigenen Erfahrungen während des Kalten Krieges verinnerlicht hat. Es ist dann wohl kein Zufall, dass sich dieses Prinzip gerade hierzulande so sehr von abweichenden Interessen geleiteten Angriffen ausgesetzt sieht. Schert Deutschland aus dem Bündnis aus, fehlen nicht nur seine militärischen Beiträge, sondern die kollektive Verteidigung Europas ist insgesamt gefährdet. Dass dies es nach den USA zum wichtigsten NATO-Partner macht, macht es zugleich zum zweitwichtigsten Ziel entsprechender Bestrebungen. Insofern gilt es auch, den Gedanken der kollektiven Sicherheit gerade in diesen beiden Ländern zu schützen.

Stefan Axel Boes

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