Interview mit Dr. Hans Christoph Atzpodien, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie e. V. (BDSV)
Herr Dr. Atzpodien, die transatlantischen Beziehungen scheinen zunehmend zerrüttet. Was bedeutet das für die deutsche Sicherheitspolitik und wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den USA?
Für die deutsche Sicherheitspolitik bedeutet es, dass die europäischen Länder aufgefordert sind, in der konventionellen Rüstung weitgehend für sich selber zu sorgen. Dies wiederum führt dazu, dass alle europäischen Länder jetzt sicherlich zunehmend Rüstungsgüter kaufen wollen – und zwar vornehmlich in Europa.
Können wir uns nach dem kurzfristigen US-Embargo gegen die Ukraine noch auf amerikanische Rüstungstechnik wie das Kampfflugzeug F-35 verlassen?
Ich bin der Überzeugung, dass wir Europäer und dass wir Deutschen nicht gut beraten wären, wenn wir die Anschaffung der F-35, die ja der Aufrechterhaltung der nuklearen Teilhabe mit den USA dient, selbst infrage stellen würden. Abgesehen davon glaube ich auch nicht, dass hierfür ein konkreter Anlass besteht.
Wie sehr hängt auch die deutsche beziehungsweise europäische Verteidigungsindustrie von amerikanischen Komponenten ab – und umgekehrt?
Diese Frage ist nicht zuletzt auch im Hinblick auf die von Präsident Trump diskutierten Zollmaßnahmen bedeutsam. Es gibt in vielen Rüstungsgütern durchaus amerikanische Teile, aber die Abhängigkeit gilt nach meinem Dafürhalten in beiden Richtungen, sodass sich vermutlich auch die USA mit der Erhebung der Zölle auf Importe aus der EU im Hinblick auf Rüstung keinen Gefallen tun. Darüber hinaus ist anzumerken, dass es bekanntlich eine Menge von amerikanisch-europäischen und auch amerikanisch-deutschen Rüstungskooperationen gibt, die ebenfalls nicht infrage gestellt werden sollten. Insofern ist abzuwarten, wie sich die Verhandlungen zwischen den USA und der EU zu diesen Themen entwickeln werden. Die Hoffnung ist, dass dies insgesamt eher zur Stabilisierung der transatlantischen Rüstungsbeziehungen als zum Gegenteil beitragen wird.
Wo könnte die heimische Industrie US-Technologie, wenn nötig, ersetzen, wo blieben Lücken?
Bekanntermaßen gibt es Bereiche, in denen ein Ersatz kurzfristig nur schwer oder unvollständig möglich ist. In anderen Bereichen allerdings wird die europäische Industrie durchaus in der Lage sein, wenn erforderlich, US-Technologie zu ersetzen. Allerdings brauchen solche Prozesse für gewöhnlich Zeit und diese Zeit haben wir nicht. Die Bundeswehr ist jetzt, nachdem die Weichen für entsprechende Haushaltsmittel gestellt sind, aufgefordert, uns, der Industrie, möglichst schnell und möglichst kompakt ihre Bedarfe zu nennen. Die Unternehmen müssen wissen, von welchem Produkt welche Stückzahl in welcher Zeit zu liefern ist. Und dies möglichst in einer Weise, bei der andere europäische Bedarfe noch mit einbezogen und aggregiert werden.
Denn nur wenn dies gelingt, wird die Industrie in den Stand gesetzt, sehr schnell ihre Kapazitäten auf das erforderliche Niveau anzupassen. Die Industrie verharrt dabei weder in einer Komfortzone, noch verhält sie sich bürokratischer als die Beschaffungsorganisation. Ihr kommt zur Hilfe, dass wir derzeit in Deutschland freiwerdende Kapazitäten im Bereich der Automobilherstellung und der Automobilzulieferindustrie sehen, die im Sinne eines gesamtwirtschaftlichen Aufbruchs in Richtung von Sicherheit und Verteidigung genutzt werden müssen. Auch andere Branchen wie etwa die Bauwirtschaft oder der Maschinen- und Anlagenbau stehen bereit, um ihren Teil zu der anstehenden Kraftanstrengung beizutragen, die die Unternehmen unseres Verbandes an erster Stelle unternehmen müssen, um das Ziel 2029 zu gewährleisten.
Wie sollte die kommende Bundesregierung aus Industriesicht mit der Situation umgehen?
Aus unserer Sicht sollte die Bundesregierung drei Prioritäten setzen. Erstens, sie sollte dafür sorgen, dass die Grundgesetzänderung zur Ausnahme von der Schuldenbremse möglichst schnell in haushälterisch handhabbare, rechtswirksame Umsetzungsermächtigungen gegossen werden kann. Zweitens, sie sollte die Bedarfe der Bundeswehr und der übrigen Sicherheitsorgane, die sich zusammen mit der Bundeswehr an der Gesamtverteidigung beteiligen, zusammenfassen und so schnell wie möglich der Industrie aufgeben. Wenn hierbei auch die Bedarfe anderer europäischer Länder einbezogen werden können, wäre dies umso besser. Drittens, um den Prozess der Kapazitätserhöhung zu beschleunigen, ist ein Maßnahmenpaket erforderlich, das wir schon im letzten Jahr unter dem Schlagwort Resilienzwirtschaft beziehungsweise Rüstungsbeschleunigungspaket thematisiert haben.
Sind Sie mit dem Beschluss, Verteidigungsausgaben von mehr als einem Prozent des BIP von der Schuldenbremse auszunehmen, gegenüber dem Alternativansatz eines neuen Sondervermögens zufrieden?
Ja, wir sind der Meinung, dass dieser Weg der Ausnahme von der Schuldenbremse der richtigere Weg ist. Weil er es ermöglicht, die Verteidigungs- und insbesondere Rüstungsausgaben der nächsten Jahre ohne eine von vornherein gegebene Begrenzung auf das Niveau zu bringen, das wir brauchen, um unseren Frieden und unsere Sicherheit in Deutschland und in Europa zu gewährleisten.