Welche Regierungsmannschaft kann schon von sich sagen, dass sie mit einem Jahrhundertprojekt auf die Zielgerade zum Abschluss des Koalitionsvertrages eingebogen ist? Schwarz-Rot unter dem künftigen Bundeskanzler Friedrich Merz vermag es. Denn was sich da weitgehend unbemerkt von weiten Teilen der Öffentlichkeit anbahnt, hat das Zeug dazu, Deutschlands Sicherheitslage innerhalb kürzester Zeit zum Besseren zu wenden sowie Land und Menschen für eine zunehmend ungewisse sicherheitspolitische Zukunft fit und widerstandsfähig zu machen: Union und SPD wollen einen Nationalen Sicherheitsrat (NSR) im Bundeskanzleramt schaffen.
Von Christina Moritz
Bis hierhin war es ein jahrzehntelanger Marathon auf einer mit Vorbehalten und Abwehrreflexen gepflasterten Strecke. Lange galten Koalitionen und das Ressortprinzip als Stolperstein für jede Initiative dieser Art. Doch immer mehr auch hierzulande spürbare Bedrohungen ließen Zweifler und Bedenkenträger verstummen. Man ist versucht, auszurufen: Geht doch! Für zu viel Enthusiasmus bleibt indes wenig Zeit. Denn nun muss schleunigst die Detailarbeit beginnen. Die Lage duldet keinen Verzug.
Sichtbare Ergebnisse der Arbeit des Nationalen Sicherheitsrates sollten bereits innerhalb der ersten 100 Tage der neuen Bundesregierung vorliegen. Sei es der Aufbau der Institution selbst nebst Personalauswahl, seien es präzise Empfehlungen, welche Themen in welcher Form prioritär anzugehen sind. Das klingt ambitioniert, wird aber gelingen, wenn sich Entscheider und vor allem der Kreis der Ressorts nicht nur den neuen sicherheitspolitischen Realitäten, sondern auch der Zusammenarbeit mit externen Experten und innovativen Technologien wie Künstlicher Intelligenz (KI) öffnen.
Die neue Regierungskoalition hat dies mit der Entscheidung für einen Nationalen Sicherheitsrat bereits getan. Ein Meilenstein in der deutschen Geschichte und Sicherheitspolitik und die einzig richtige Antwort auf die epochalen Veränderungen weltweit. Sich auf einen NSR einzulassen, bedeutet Kooperation statt Kästchen-Klein-Klein oder Fortschritt lähmendes Kompetenzgerangel. Und zwar nicht nur militärisch, wie oft behauptet wird, sondern auch zivil. Das generiert einen Informationsmehrwert und Gewinn an zeitgemäßen Methoden und Strategien, der allen zugutekommt. Erwünschter, oft übersehener jedoch überlebenswichtiger Nebeneffekt: deutliche Beschleunigung von Entscheidungsprozessen und Handlungsketten.
Wer will schon weiter von Entwicklungen überrascht werden? Das kostet Prestige, Geld und im schlimmsten Fall Menschenleben. Nationale Sicherheit und gesamtgesellschaftliche Resilienz (Widerstandsfähigkeit) kann kein Bundesministerium allein verantworten, geschweige denn ins Werk setzen. Und zur Abwechslung könnte und sollte es in Zukunft auch einmal die Bundesrepublik sein, die internationalen Partnern dienliche Sicherheitshinweise gibt. Deutsche Fachleute gibt es wahrlich genug, nicht zuletzt in Wirtschaft, Wissenschaft und Verbänden.
Komplexität systematisch bewältigen
Der Nationale Sicherheitsrat, zu dem laut Koalitionsvertrag von CDU/ CSU und SPD auch ein Nationaler Krisenstab und ein Nationales Lagezentrum gehören sollen, bietet als institutionelle Plattform zum einen die Möglichkeit, sich einen systematischen Überblick zu verschaffen, worüber Deutschland tatsächlich verfügt und welche Wissens- und Kompetenzschätze etwa aus den Untiefen der Wirtschafts- oder Forschungslandschaft noch gehoben werden müssten. Zum anderen kann er die weitere Vernetzung von Daten und Akteuren auf dieser Grundlage ebenso systematisch vorantreiben. Eine Aufgabe, die kein Bundesministerium allein zu leisten imstande ist.

Die horizontale Abstimmung mag bislang leidlich gelingen, doch bei der nötigen überkreuzenden und vertikalen bis auf die kommunale Ebene braucht es mehr. Genau deshalb sollte ein Nationaler Sicherheitsberater zur Beratung des Bundeskanzlers mit einem Informationsdurchgriffsrecht ausgestattet sein. Damit erhielte er, wie im Übrigen der gesamte Nationale Sicherheitsrat, keine Entscheidungsbefugnis. Vielmehr könnte er Daten ungefiltert von jeder Ebene des Staates anfordern und so seine Beratungsfunktion auf ein gesichertes, schnell verfügbares Lagebild stützen.
Bleibt zu entscheiden, wo der auswertende Arbeitsmuskel, eine dem Bundeskanzleramt unterstellte Planungseinheit, physisch zu verorten ist. Sie erarbeitet Empfehlungen des Sicherheitsberaters auf Basis der Ergebnisse umfassender Analyse. Zentral oder disloziert zum besseren Schutz? Das wird ein zu klärendes organisatorisches Detail sein, das allerdings nichts am Zugewinn neuer Fähigkeiten und Verbesserungen ändert, die sich nur mit einem NSR erschließen.
Künstliche Intelligenz statt Karteikarte
Ein NSR-Aufbaustab muss nicht nur Organisatorisches regeln, sondern Gefährdungen in unendlich vielen Kombinationsmöglichkeiten betrachten, bewerten und zusammengefasst für die erste Arbeitsagenda des Nationalen Sicherheitsrates innerhalb kürzester Zeit aufbereiten. Ohne eine Verbindung aus Künstlicher Intelligenz (KI) und auf globale 360°-Analyse geschultem, entscheidungssicherem Personal wird eine schnelle Priorisierung schon der Masse der nun zusammenzuführenden zivilen und militärischen Informationen allerdings nicht zu bewerkstelligen sein.
Zudem herrscht auch in Sachen Daten häufig eine Silo-Mentalität und Arbeitspraxis, von der sich Staat und Verwaltung für mehr Sicherheit dringend verabschieden müssen. Bundeswehr und Wirtschaft haben die Potentiale Künstlicher Intelligenz längst verstanden und in ihre Arbeitsstrukturen integriert. Auch für den Nationalen Sicherheitsrat sollte KI von Anfang an ein zentrales Instrument sein. Insbesondere, weil sie mittels leistungsstarker Algorithmen nicht nur Zusammenhängendes miteinander zu einem gesamtheitlichen zivil-militärischen Lagebild verbinden, sondern auch lernen und sich weiterentwickeln kann. So bliebe Deutschland auf der Höhe der Zeit wie auch der Angreifer.
Dass Karteikarten und Faxgeräte helfen, aber um digitalisierte Arbeitsmittel ergänzt werden müssen, hat jede Verwaltung in Stadt und Land verstanden. Steht zu hoffen, dass dies für die Ressorts des Bundes ebenfalls gilt. Und vielleicht ließe sich auch die erforderliche Prüfung und Novellierung sicherheitsrelevanter Gesetze im Deutschen Bundestag und anderswo mit KI beschleunigen? Wo Lösungen unvollständig sind, könnten Universitäten und Forschungseinrichtungen entsprechende Aufträge erhalten. Es gibt viel zu tun, bis der Nationale Sicherheitsrat und mit ihm Deutschland ins Ziel geht – der Schaffung bestmöglicher Voraussetzungen für die Nationale Sicherheit.
Die Berliner Politologin Christina Moritz forscht und promoviert zu ihrem Modell für einen deutschen Nationalen Sicherheitsrat, das sie 2016 erstmals vorgestellt hat. Die Expertin setzt sich in Fachpublikationen und Vorträgen für die Schaffung der Institution ein.