Teil 1: Was ein Wegfall des amerikanischen Nuklearschirms für NATO-Europa und Deutschlands Rolle in der Allianz bedeuten würde
Es gibt zunehmend Anlass darüber nachzudenken, was es für die Sicherheitslage Europas bedeuten würde, wenn der seit sieben Jahrzehnten bestehende amerikanische Nuklearschirm von einer künftigen US-Administration nicht länger aufrechterhalten würde.
Die im Zuge seines Angriffskrieges gegen die Ukraine immer wieder angedeuteten diffusen Drohungen Putins mit nuklearer Eskalation zielen nicht nur darauf ab, den Westen davon abzuhalten, der Ukraine den verzweifelt geforderten Einsatz weitreichender Waffensysteme freizugeben. Vielmehr zielten sie ebenso ab auf das Verhalten Deutschlands in einem Krieg auf Grundlage des Artikel 5 im Rahmen der NATO. Im Klartext lautet die Botschaft an Berlin: Wagt es nicht, russische Schläge mit Fernwaffen gegen Ziele in Deutschland mit Luftangriffen oder weitreichendem Präzisionsfeuer durch konventionelle Raketen- und Artilleriesystemen gegen Ziele auf dem Territorium Russlands zu beantworten.
Für diesen Fall droht Moskau an, Deutschland mit nuklearen Schlägen aus der Allianz herauszubrechen. Auf diese nukleare Drohung hat Deutschland bisher keine guten Antworten: Weitreichend konventionelle Präzisionswaffen müssen erst noch beschafft und interimsweise amerikanische Systeme im Westen Deutschlands stationiert werden, und die im Rahmen der deutschen nuklearen Teilhabe relevanten amerikanischen Nuklearwaffen für die deutschen Tornado- und F-35 Kampfflugzeuge sind in der Verfügungsgewalt des amerikanischen Präsidenten, nicht des deutschen Bundeskanzlers. Deutschland ist somit in entscheidenden Aspekten darauf angewiesen, dass die USA ihre Beistandszusagen aufrechterhalten. Zugleich ist die russische nukleare Drohung erkennbar darauf gerichtet, die Angst vor einem Krieg mit dem „unbesiegbaren“ Russland so zu schüren, dass wichtige NATO-Mitgliedstaaten wie Deutschland in der Krise ihre Bündnissolidarität verweigern und es gar nicht erst zu einer kollektiven Bündnisverteidigung nach Artikel 5 kommt. Sollten sich angegriffene Frontstaaten dann trotzdem militärisch zur Wehr setzten, ließe sich der Krieg für Russland auf die Gebiete des Angegriffenen begrenzen. So könnte es seine militärischen Ziele mit vertretbarem Risiko und akzeptablen Kosten erreichen.
Das ist im Kern das Kalkül der ständig wiederholten Drohung Russlands mit Nuklearkrieg, seiner behaupteten Eskalationsdominanz und seiner Doktrin des „ecalate to deescalate“. Russland versucht kollektive Bündnisverteidigung der NATO zu unterbinden und eine Beschwichtigungspolitik gegenüber seinen extrem weitreichenden, völkerrechtswidrigen und geradezu unverschämt revisionistischen Forderungen zu erzwingen. Einer der Haupt-Adressaten dieser Drohungen sind nicht nur die USA und die beiden europäischen Atommächte, sondern der zweitwichtigste NATO-Mitgliedsaat nach den USA – die verwundbare, angstgetriebene und für nukleare Erpressung empfängliche Nicht-Nuklearmacht Deutschland.

Vor diesem Hintergrund hat Deutschland allen Grund, nicht nur Kriegstüchtigkeit von Bundeswehr, Politik, Gesellschaft und Wirtschaft mit Blick auf die hybride und konventionelle Dimension wiederherzustellen – in dieser Hinsicht geht alles weiterhin nicht schnell und konsequent genug, aber seit der „Zeitenwende“ von Februar 2022 zumindest in die richtige Richtung. Zugleich muss Deutschland Anstrengungen unternehmen, sich aus seiner prekären nuklearen Erpressbarkeit durch Russland zu lösen. Das ist nicht unmöglich, bedarf aber ebenfalls großer Anstrengungen.
Was würde der Verlust des amerikanischen Nuklearschirms bedeuten?
Gegenwärtig beruht die nukleare Abschreckung im Rahmen der NATO auf drei wesentlichen Elementen, die nicht gleichwertig, sondern stark abgestuft zu verstehen sind: Erstens, das überwältigende nukleare Potenzial der USA, das von strategischen Systemen in den USA und auf den Weltmeeren bis zu taktischen, in Europa (einschließlich in Deutschland) bereitgehaltenen sogenannten „taktischen“ Atomwaffen reicht. Es ist als „Triade“ breit gefächert und garantiert den USA – wie dies seit den 1960er Jahren auch bei Russland und absehbar künftig auch China der Fall ist – eine gesicherte Zweitschlagfähigkeit. Diese Fähigkeiten der nuklearen Supermacht USA (neben ihrer zusätzlichen herausragenden Bedeutung als weltweit führende See-, Luft-, Raum- und Cybermacht) bilden der Kern glaubwürdiger nuklearer Abschreckungsfähigkeit der NATO.