Zu den ersten und weitgehendsten Reaktionen schon auf die bloße Möglichkeit der erneuten Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten gehörte die Frage, wie im Falle eines Wegfalles der nukleare Schutzschirm der USA für die NATO ersetzt werden könnte.
Durch Berichte im Frühjahr über Pläne auf beiden Seiten des Atlantiks für einen möglichen amerikanischen Rückzug aus dem Bündnis wurden solche solche Überlegungen mittlerweile sehr viel konkreter. Der französische Präsident Emmanuel Macron, der schon früher eine Diskussion über eine Ausdehnung des eigenen nuklearen Schutzschirms von Frankreich auf die europäischen Partner angeregt hatte, hatte dies bereits zuvor mit Nachdruck wiederholt. Diesmal traf er auch auf mehr Interesse, etwa in Deutschland und Polen. Gerade Deutschland stand Konkurrenzmodellen zum bewährten amerikanischen Schutz bislang skeptisch gegenüber. Hinter dem französischen Vorschlag sah man vor allem den Versuch, die Partner an den erheblichen Kosten, aber weniger an den Entscheidungen über den Einsatz des nationalen Nukleararsenals zu beteiligen. Tatsächlich versicherte Macron bei seiner neuen Initiative im gleichen Atemzug den eigenen Landsleuten, dass alle Entscheidungen über einen möglichen Einsatz allein in französischer Hand bleiben würden. Frankreich ist ebenfalls nicht Mitglied der Nuklearen Planungsgruppe der NATO, in der die an der Nuklearen Teilhabe beteiligten Partner über die Nuklearwaffenstrategie des Bündnisses mitentscheiden. Natürlich gilt auch im bisherigen System, dass ein Einsatz letztlich von einer Genehmigung des amerikanischen Präsidenten abhängt.
Das „Hamburg gegen New York“-Dilemma
Ob eine amerikanische Regierung sich zur Verteidigung der europäischen Partner tatsächlich auf einen Nuklearkrieg einlassen würde – und damit „Hamburg für New York einzutauschen“, wie ein beliebter Spruch lautet – blieb immer mit einem Restzweifel behaftet. Der NATO-Doppelbeschluss zur Stationierung von Pershing-II-Mittelstreckenraketen und nuklear bestückten Marschflugkörpern Gryphon in Europa als Antwort auf die sowjetischen SS-20 beruhte letztlich auf entsprechenden Befürchtungen. Diese waren, dass die USA ohne eine gleichwertige Möglichkeit zur Erwiderung zögern könnten, bei einem Schlag gegen Europa direkt zum Einsatz strategischer Waffen gegen die Sowjetunion zu eskalieren und damit selbst zum Ziel zu werden. Am Ende blieb das Ziel stets eine funktionierende Abschreckung, also den Einsatz überhaupt zu vermeiden.
Auch die Betrachtung eines möglichen Ersatzes des bisherigen US-Schutzschirms durch einen europäischen erfordert eine Befassung mit den Theorien des Nuklearkrieges. Diese unterscheiden zwischen verschiedenen taktischen und strategischen Einsatzszenarien, die eine unmittelbare Eskalation auf die höchste Ebene gerade verhindern sollen, sowie auf letzterer zwischen Erst und Zweitschlag.
Nach der Doktrin der „Flexible Response“, die in den 1960er-Jahren die „Massive Retaliation“ ablöste, sollte der Einsatz von Kernwaffen nur noch lageabhängig im notwendigen Umfang erfolgen, ohne unmittelbar zum strategischen Austausch zu führen. Das setzte eine entsprechende Differenzierung der Einsatzmittel voraus. Einmal für die taktische Ebene, um einen konventionell überlegenen Gegner im äußersten Fall doch noch auf dem Schlachtfeld zu schlagen. Dann die substrategische Ebene für Schläge gegen Führungs- und Versorgungseinrichtungen in dessen rückwärtigem Gebiet und schließlich strategische Waffen als ultimatives Abschreckungsmittel. Damit einher gingen verschiedene Einsatzdoktrinen.
Eine F-35 wirft eine inerte B61 Mod 12 Bombe ab. (Foto ©Los Alamos National Laboratory)
Für die erste Generation von Interkontinentalraketen (ICBM) mit relativ geringer Zielgenauigkeit kam nur das Prinzip „Counter Value“ infrage: die Vernichtung großflächiger Bevölkerungs- und Industriezentren als Vergeltung für ebensolche Angriffe des Gegners. Dies war daher stark reaktiv, während mit zunehmender Präzision der Gefechtsköpfe das Prinzip „Counter Force“ machbar wurde. Also der gezielte Einsatz gegen militärische (Punkt-)Ziele, insbesondere gegnerische Entscheidungszentren und Nuklearstreitkräfte selbst.
Der Erst- und Zweitschlag
Dies war stark mit dem Erstschlaggedanken verbunden, um das gegnerische Potenzial möglichst zu neutralisieren, bevor es selbst eingesetzt werden kann. Dies führte wiederum zum Prinzip „Use them or lose them“: Wurden die eigenen Interkontinentalraketen und Bomber nicht unmittelbar bei Warnung vor einem gegnerischen Angriff gestartet, bestand die Gefahr ihrer Vernichtung und damit des Verlusts der Mittel für eine Erwiderung.
Uboot-gestützte ballistische Raketen (SLBM) waren vor Erstschlägen weitgehend sicher, aber den landgestützten ICBM in Reichweite und Zielgenauigkeit zunächst unterlegen. Strategische Waffen differenzierten sich damit einmal in ICBM, die als mögliche Erstschlagsysteme vorwiegend im ersten Austausch zum Einsatz gekommen wären. Sodann SLBM, die auch als mögliche Reserve für einen Counter-Value-Zweitschlag zur Verfügung standen. Bomber schließlich konnten im Gegensatz zu Raketen nach dem Start noch zurückgerufen werden. Der Flexibilität des Bombers in dieser nuklearen „Triade“ stand allerdings seine Verwundbarkeit durch Flugabwehrsysteme gegenüber. In der Logik der Abschreckung durch „Mutually Assured Destruction“ mit dem passenden Kürzel MAD, wonach letztlich keine Seite einen strategischen Austausch überleben würde, wurden Erfolg versprechende Verteidigungssysteme gegen Raketenangriffe dagegen zum destabilisierenden Faktor.



