Ihre Sucheingabe

[naviPost_search]

Oreschnik und Arrow 3: Ein zweiter Blick

Das auch von Deutschland bestellte israelische Raketenabwehrsystem Arrow 3 wird derzeit ständig neuen Entwicklungen bei angreifenden Mittelstreckenraketen iranischen Typs angepasst, die der russischen Oreschnik voraus sind. (Fotos: IAI)
Login für Abonnenten

Erhalten Sie jetzt einen Zugang zu den Magazinen von Hardthöhenkurier:

Partner unsere Sonderpublikationen

AFCEA Sonderpublikationen

Sieben Wochen nach dem scharfen Testschuss der neuen russischen Mittelstreckenrakete Oreschnik (NATO-Bezeichnung SS-X-34) auf das Industriegelände des Fahrzeug- und Weltraumkonzerns Juschmasch in der südukrainischen Stadt Dnipro hat sich der physische und politische Staub gelegt. Obwohl der Einsatz öffentlichkeitswirksam die Rückkehr dieser lange vom INF-Vertrag verbotenen Waffenart nach Europa demonstriert hat, hat er bei nüchterner Betrachtung keine neuen Fähigkeiten gezeigt. Dies gilt besonders im Vergleich zu den von Russlands Präsident Wladimir Putin und pro-russischen Propagandisten anschließend verbreiteten Behauptungen. Demnach sollte Oreschnik die brandneue Entwicklung eines nicht abzufangenden Präzisions-Hyperschall-Flugkörpers sein. Dieser verwandele sein Ziel „wie ein Meteorit“ durch kinetische Wirkung in Staub. Ebendies sei auch mit dem Juschmasch-Werk geschehen.

Dagegen zeigen öffentlich zugängliche Satellitenbilder nach dem Angriff keine Schäden auf dem Gelände, die nicht schon auf frühere Treffer mit bisherigen Kurzstreckenraketen zurückzuführen waren. Einige Mitglieder der internationalen Open Source Intelligence (OSINT)-Gemeinschaft wollen dagegen Einschläge von Wiedereintrittskörpern beziehungsweise Submunition in einem Wohngebiet bis zu einem Kilometer nördlich des Geländes erkannt haben. Diese Erkenntnisse widersprechen zumindest nicht verfügbaren Videoaufnahmen und dem beschriebenen Wirkungsmechanismus. Demnach kamen dem bei dem Angriff sechs unabhängig steuerbare Wiedereintrittskörper (MIRV) mit wiederum jeweils sechs Impaktoren zum Einsatz, die mit zehn- bis elffacher Schallgeschwindigkeit auftrafen.

Oreschnik ist nicht Tunguska

Putin zog in seiner Beschreibung den Tunguska-Meteoriten heran, der 1908 in Sibirien mutmaßlich ein über 2.000 Quadratkilometer großes Waldgebiet verwüstete, wobei noch in über 500 Kilometer Entfernung Explosionszeichen wahrgenommen wurden. Sofern diese Theorie zutrifft, handelte es sich hier aber vermutlich um das Auseinanderbrechen eines kleinen Asteroiden oder Kometen in mehreren Kilometern Höhe. Quasi also eine Luftdetonation mit entsprechender Druckwelle, jedoch ohne Krater. Bei Oreschnik ist dagegen nach diversen Berechnungen von Impaktoren mit einer Masse von jeweils 30 bis 250 Kilogramm auszugehen. Dabei ist unklar, ob es sich bereits um die vorgesehenen Wirkkörper, Dummies für den Testschuss oder schlicht Trümmer der MIRVs handelte.

Zwar wäre deren kinetische Energie bei einer Einschlaggeschwindigkeit von Mach 10 bis 11 erheblich. Im Grunde wären dies aber KE-Geschosse, deren Wirkung am Boden wesentlich von Form und Materialbeschaffenheit des Impaktors und des Ziels abhinge. Denkbar wäre ein tiefes Eindringen mit einem mehr oder weniger kalibergroßen Öffnungsdurchmesser, ein Zerplatzen beim Auftreffen und/oder diverse Formen und Größen von Kratern. Auf Satellitenaufnahmen wären dann je nach Auflösung möglicherweise keine größeren Schäden auszumachen. Die apokalyptischen Beschreibungen der Wirkung von Oreschnik im Ziel treffen aber offenbar nicht zu.

Eine Frage der Präzision

Gegen gehärtete Hochwertziele wie Bunkeranlagen wäre dies immer noch eine wirkungsvolle Waffe, da hier auch Effekte nach dem Durchschlagen von Erdschichten und konstruktiven Armierungen zu betrachten wären. Voraussetzung wäre eine Zielgenauigkeit im Bereich weniger Meter, wie sie von Wirkmitteln mit GPS- oder Lasersteuerung beziehungsweise intelligenter optronischer oder Radar-Zielerkennung erreicht wird. Sollte es zutreffen, dass die Einschläge von Oreschnik beim Angriff auf Dnipro bis zu 1.000 Meter vom Ziel entfernt erfolgten, wäre dies offensichtlich nicht gegeben. Eine präzise Steuerung im Endanflug ist auch gerade wegen der hohen Einschlagsgeschwindigkeit unwahrscheinlich.

Allein der durch die Reibungshitze entstehende Ionisierungseffekt der umgebenden Luft – der bei Raumfahrzeugen regelmäßig zur Unterbrechung der Funkverbindung während des Wiedereintritts in die Erdatmosphäre führt – würde sowohl mit optronischer als auch radar- oder satellitengestützter Steuerung erheblich interferieren. Allenfalls Trägheitsnavigation ist hier noch denkbar. Die 50-prozentige Zielgenauigkeit von MIRVs (Circular Error Probable, CEP) liegt daher üblicherweise im Bereich von 100 bis 500 Metern, nachdem sie von dem sie tragenden „Bus“ noch außerhalb der Atmosphäre ausgerichtet und auf individuelle Wiedereintrittsbahnen geschickt wurden. Das ist für den Einsatz nuklearer Gefechtsköpfe hinreichend, jedoch nicht für Präzisionsangriffe auf Punktziele mit ausschließlich kinetischer Wirkung.

Hyperschall ist überall

Dies zeigt das Dilemma von mit dem Modewort „Hyperschallwaffen“ bezeichneten Flugkörpern. Tatsächlich erreicht jede ballistische Rakete mit einer Reichweite von mehr als einigen hundert Kilometern Hyperschallgeschwindigkeit von Mach 5 und mehr. Im engeren Sinne bezieht sich der Begriff aber auf Waffen, die bei solchen Geschwindigkeiten auch radikale Kursänderungen ausführen können und daher mit gegenwärtigen Mitteln tatsächlich kaum abzufangen sind. Dies trifft selbst auf das oft genannte russische System Iskander und seine luftgestartete Variante Kinschal nur bedingt zu. Diese können zwar bei weniger als ihrer Maximalreichweite die verfügbare Antriebsenergie zum Steuern von teilweise nicht-ballistischen Flugbahnen verwenden. Der Endanflug erfolgt jedoch nicht hypersonisch, um eine Zielgenauigkeit von fünf bis sieben Metern zu erreichen.

Ähnliche Fähigkeiten hatte bereits in den 1970er Jahren die amerikanische Mittelstreckenrakete Pershing II, die nach dem Abbremsen beim Wiedereintritt in die Atmosphäre mit einem abbildenden Radarsuchkopf einen CEP von 30 Metern erzielte. Oreschnik hat dagegen bislang weder eine Manövrierfähigkeit in der ballistischen Phase noch Präzisionsfähigkeit im Endanflug demonstriert. Flugdauer und der steile Einschlagwinkel der Wirkkörper legen vielmehr nahe, dass die relativ geringe Entfernung von knapp 800 Kilometern vom mutmaßlichen Startplatz auf dem Testgelände Kapustin Jar durch eine konventionelle ballistische Flugbahn mit hohem Scheitelpunkt erreicht wurde. Aufnahmen von geborgenen Trümmerteilen zeigen einen typischen „Bus“ mit Treibstofftanks und Manövrierdüsen zum Ausrichten der MIRVs vor dem Wiedereintritt.

Nichts an Oreschnik ist wirklich neu

Bauteile mit Seriennummern aus dem Jahr 2017 lassen vermuten, dass Oreschnik auch keine kürzliche vollständige Neuentwicklung ist, sondern dem russischen Programm Kedr (Zeder) für ein modulares Raketensystem aus dem letzten Jahrzehnt entstammt. Ziel war, verschiedene Antriebsstufen und Nutzlasten flexibel für unterschiedliche Einsatzzwecke kombinieren zu können. Letztlich handelt es sich also um herkömmliche Technologie, die im Wesentlichen eine Trägerrakete für nukleare Gefechtsköpfe genutzt hat, um als politische Demonstration eine Art suborbitale Schrotflintenladung auf eine Großstadt abzufeuern. Revolutionär ist weder die Wirkung im Ziel noch die Durchsetzungsfähigkeit gegen Abfangmaßnahmen.

Noch steht Oreschnik auch nicht in der Serienfertigung. Die Ukraine hat seit dem Angriff auf Dnipro mehrfach weitere von westlichen Ländern gelieferte Präzisionswaffen auf russisches Gebiet abgefeuert. Dies war erklärtermaßen Grund für die Demonstration der Rakete, die der Abschreckung dienen sollte. Einen erneuten Einsatz hat es bislang jedoch nicht gegeben. Putin selbst hat davon gesprochen, dass Oreschnik in der zweiten Jahreshälfte 2025 bei den russischen Raketentruppen in Dienst gehen soll. Dann wird sie in ihrer Funktion als gegen Europa gerichtete Mittelstreckenrakete vor allem den land- und seegestützten US-Abwehrflugkörpern vom Typ Standard SM-3 sowie dem dann in Deutschland eintreffenden israelischen System Arrow 3 gegenüberstehen.

Künftige deutsche Abwehr lernt von den Huthis

Beide Typen haben ihre Fähigkeiten gegen Mittelstreckenraketen im vergangenen Jahr bei den beiden massiven iranischen Angriffen auf Israel unter Beweis gestellt. Das israelische Raketenabwehrsystem muss sich weiterhin regelmäßig gegen Angriffe der Huthis aus dem Jemen behaupten, die dazu iranische Raketentypen mit 2.000 Kilometern Reichweite und mehr nutzen (zum Vergleich: Die Entfernung zwischen dem Oreschnik-Startplatz Kapustin Jar und Berlin beträgt 2.300 Kilometer). Dabei existiert eine beständige Lernkurve. So verfehlte Arrow 3 kurz vor Weihnachten zwei anfliegende Gefechtsköpfe. Bei diesen handelte es sich nach israelischen Vermutungen um einen Typ aus der iranischen Fattah-Familie. Diese ist mit einem manövrierfähigen Gefechtskopf mit Zusatzantrieb ausgestattet und wird vom Iran ebenfalls als Hyperschallwaffe bezeichnet.

Tatsächlich dürfte der Typ ähnlich wie Iskander nur zu einer begrenzt nicht-ballistischen Flugbahn fähig sein und für die Präzisionslenkung im Endanflug unter Hyperschallgeschwindigkeit abgebremst werden. In jedem Fall führte israelischen Berichten zufolge ein schnelles Upgrade von Arrow 3 Ende Dezember wieder zum erfolgreichen Abfangen der Waffe, wobei ein zweiter Gefechtskopf im Endanflug von dem amerikanischen Abwehrsystem THAAD zerstört wurde. Nicht-manövrierfähige Mittelstreckenraketen wie Oreschnik bleiben in der Phase zwischen Ausbrennen der Aufstiegsstufen mit Abtrennung des „Busses“ und dem Freisetzen der Wiedereintrittskörper ohnehin verwundbar. In diesem Sinne zeigt Arrow 3 auch noch Wachstumspotenzial gegen mögliche künftige Entwicklungen, die die Reichweite von Oreschnik mit der begrenzten Manövrierfähigkeit von Iskander verbinden könnten. Weiterhin gilt es allerdings, sich auf das Erscheinen echter Hyperschallwaffen vorzubereiten.

Stefan Axel Boes

 

Verwandte Themen: