Die deutsche Beschaffungsentscheidung für das israelische Raketenabwehrsystem Arrow 3 sieht nach dem russischen Angriff mit einer neuen Mittelstreckenrakete (IRBM) auf die ukrainische Stadt Dnipro in dieser Woche plötzlich besser aus, als Kritiker es wissen wollten. Diese bezweifelten, dass es gegen mögliche Bedrohungen geeignet sei. Letztere wurden seinerzeit vor allem in ballistischen Kurzstreckenraketen (SRBM) wie dem Typ Iskander sowie Marschflugkörpern gesehen. Da Arrow 3 ein exo-atmosphärischer Abfangflugkörper, also auf Ziele im weitgehend luftleeren Raum oberhalb einer Höhe von etwa 65 Kilometern optimiert ist, könne er dieser Kritik nach solche Angriffe gar nicht bekämpfen.
Was in Bezug auf tieffliegende Marschflugkörper sicher stimmt, aber schon hinsichtlich Iskander zweifelhaft war. Bei der Entfernung zwischen russischem und deutschen Staatsgebiet, nahe der angenommenen Maximalreichweite des Flugkörpers 9K723, müsste auch dieser auf dem Gipfelpunkt der Flugbahn rechnerisch eine Höhe zwischen 90 und 150 Kilometern erreichen. Klar war immer, dass Arrow 3 nur die oberste der Abfangschichten abdecken würde. Gegen Marschflugkörper und andere tieffliegende Bedrohungen – und auch als Ergänzung der ballistischen Raketenabwehr zur Punktverteidigung gegen durchbrechende Flugkörper – gibt es andere Systeme: Patriot, und künftig IRIS-T SLM.
Rückkehr der Mittelstreckenraketen war absehbar
Über ergänzende Systeme, die speziell auf Kurzstreckenraketen in der Iskander-Klasse ausgerichtet sind, lässt sich natürlich diskutieren: Arrow 2, das amerikanische THAAD, oder die in Entwicklung stehende Block-2-Version der französisch-italienisch-britischen Aster 30. Vielleicht ist es aber auch wichtiger, zunächst die Zahl der eingeführten und ausgewählten Systeme zu erhöhen, um gerade gegen tieffliegende Bedrohungen eine bessere Abdeckung in der Fläche zu erreichen. Und was schon zum Zeitpunkt der Entscheidung für Arrow 3 offensichtlich war: bei den damaligen russischen Flugkörpern würde es nicht bleiben.
Mit der Aufkündigung des INF-Vertrags über das Verbot landgestützter Mittelstreckenwaffen durch den damaligen und künftigen US-Präsidenten Donald Trump – und in der Folge ebenfalls durch Russland – 2019 war auch offiziell ein neuer Rüstungswettlauf in dieser Kategorie gestartet. Ohnehin waren russische Militärs nie glücklich mit diesem Vertrag. Denn er bezog China nicht mit ein und führte damit zu einer Rüstungslücke gegenüber dem östlichen Nachbarn, Konkurrenten und möglichem Gegner. Inwieweit die gegenseitigen Vorwürfe der Wahrheit entsprachen, dass die US-Raketenabwehrsysteme in Rumänien und Polen einerseits sowie das Iskander-System andererseits auch zum Start vertragswidriger landgestützter Marschflugkörper verwendet werden könnten: das spielt im Nachhinein keine Rolle mehr.
Demonstration gegenüber der NATO
Der russische Angriff auf Dnipro hat die Rückkehr dieser Waffen eindrücklich demonstriert. Wladimir Putins anschließender Drohung mit Angriffen auf NATO-Staaten, die der Ukraine den Beschuss des „echten“ russischen Staatsgebiets mit von ihnen gelieferten Flugkörpern gestatten, ist zu entnehmen, dass das auch genauso gedacht war. Dass dieser Schritt unwahrscheinlich bleibt, solange Russland nicht einmal NATO-Drohnen im internationalen Luftraum über dem Schwarzen Meer abschießt, von denen es – wohl nicht zu Unrecht – annimmt, dass sie die Ukraine mit Zieldaten versorgen; dass es sicher (noch) nicht über viele Mittelstreckenraketen verfügt: geschenkt. Das Potenzial ist da.
Zunächst wurde noch über die Verwendung einer Interkontinentalrakete (ICBM) vom Typ RS-26 Rubesch spekuliert. Dies ist eine um eine Stufe reduzierte und bereits 2016 mit nur zwei Systemen eingeführte Ableitung aus der RS-24 Jars, die mit einer angegebenen Reichweite von 5.800 Kilometern gerade oberhalb des Bereichs zwischen 500 und 5.500 Kilometern bleibt, den der INF-Vertrag für Mittelstreckenraketen definiert. Der erste scharfe Einsatz einer ICBM, der gemeinhin mit nuklearen Weltuntergangsszenarien assoziiert ist, wäre wohl noch spektakulärer gewesen. Von amerikanischer Seite hieß es aber rasch, dass es sich um einen neuen Typ handele, den man seit einiger Zeit verfolgt habe.
Im Abfangfenster von Arrow 3
Putin bestätigte in seiner Erklärung, dass es sich um eine neue Waffe mit der Bezeichnung 9M729 Oreschnik gehandelt habe, die sich noch in der Testphase befinde. Möglicherweise wurde diese wiederum aus der RS-26 weiterentwickelt. Die Ableitung einer Mittelstrecken- aus einer Interkontinentalrakete ist im russischen Flugkörperbau nichts neues: Bereits die RSD-10 Pioner mit der NATO-Bezeichnung SS-20, die in den 70er Jahren zum NATO-Doppelbeschluss und schließlich zum INF-Vertrag führte, beruhte im wesentlich auf der um eine Stufe reduzierten RS-14 Temp-2S. Über die Daten von Oreschnik ist noch wenig bekannt. Aufnahmen des Angriffs auf Dnipro legen nahe, dass sie sechs unabhängig zielbare Wiedereintrittskörper (MIRV) tragen kann. Diese wurden hier scheinbar ohne Gefechtskopf eingesetzt und erzielten nur kinetische Wirkung durch die hohe Einschlagsgeschwindigkeit.
Sicher können diese künftig nuklear bestückt werden. Sicher fällt Oreschnik aber auch in das Abfangfenster von Arrow 3, die während der iranischen Raketenangriffe auf Israel in diesem Jahr ihre Fähigkeit zum Bekämpfen von Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite von etwa 1.500 Kilometern unter Beweis gestellt hat. Zufällig ist das auch ungefähr die Entfernung zwischen Berlin und Moskau. Es drängt sich der Eindruck auf, dass deutsche Entscheider wussten, was sie taten, als sie die Einführung von Arrow 3 bei der Bundeswehr bereits im kommenden Jahr auf den Weg brachten. Obwohl die Sache damit gewiss nicht abgehakt werden kann.
Das war erst der Anfang
Denn sofern die Entwicklung nicht wieder zu einem Rüstungskontrollregime analog des INF-Vertrags führt – kompliziert dadurch, dass es diesmal auch China umfassen müsste – stehen wir erst am Anfang neuer Bedrohungen. Das vielgeführte Schlagwort der Hyperschallwaffen ist bislang weitgehend inkorrekt angewandt worden. Jede ballistische Rakete mit einer Reichweite von mehr als einigen hundert Kilometern erreicht schließlich Hyperschall-Geschwindigkeiten von Mach 5 und mehr. Die mit diesem Begriff angepriesenen russischen Systeme wie Iskander und ihre luftgestartete Variante Kinschal sind zwar zu teilweise nicht-ballistischen Flugbahnen fähig und dadurch schwierige Ziele. Sie können aber sehr wohl von existierenden Abfangflugkörpern bekämpft werden, wie Patriot in der Ukraine bereits bewiesen hat.
Die eigentliche Herausforderung geht von künftigen Hyperschall-Gleitwaffen und -Marschflugkörpern aus, die ihren Kurs bei diesen Geschwindigkeiten radikal ändern können. Dies wird auch eine neue Generation von Abfangflugkörpern erfordern. Israel arbeitet als Nachfolger von Arrow 3 dazu bereits an Arrow 4. In Europa läuft das Projekt HYDEF (Hypersonic Defence Interceptor Study), das im Auftrag der gemeinsame Beschaffungsbehörde OCCAR bis 2026 eine Studie zu einem entsprechenden System abschließen soll. Beide sind mögliche Optionen für Deutschland als Nachfolger und Ergänzung von Arrow 3. Auch wenn Kritiker dann sicher wieder bezweifeln, dass sie zur Abwehr aktueller Bedrohungen geeignet sind.
Stefan Axel Boes