Die deutsch-amerikanische Erklärung zur „episodischen“ Stationierung von Lenkwaffensystemen Typhon mit der Fähigkeit zum Verschuss von Marschflugkörpern Tomahawk und Mehrzweckraketen SM-6 in Deutschland kann nicht wirklich überraschen.
Bereits im September 2021 stellte die U.S. Army in Wiesbaden das Hauptquartier der 2nd Multi-Domain Task Force in Dienst. Aufgabe des Verbands war unter anderem, angesichts der schon nach der russischen Intervention in der Ukraine von 2014 geänderten Sicherheitslage in Europa „long range fires“ zur Verfügung zu stellen.
Dass nun eigens angekündigt wird, die dafür zugeordneten Truppenteile auch zeitweise in Deutschland einzusetzen, ist vor allem im Zusammenhang mit der gleichzeitigen deutsch-französisch-italienisch-polnischen Erklärung zur Entwicklung eines eigenen europäischen Flugkörpers für „Deep Precision Strikes“ zu sehen. Auch diese Absicht kam übrigens nicht aus heiterem Himmel: Bereits im April hatte Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius ein entsprechendes Vorhaben mit Frankreich angekündigt, und im Juni beim Treffen des Weimarer Dreiecks die Beteiligung weiterer Partner. Erhofft wird wohl noch der Einstieg Großbritanniens.
Die nicht-permanente Stationierung amerikanischer Systeme wird damit zur Übergangslösung mit der klaren Erwartung, dass die Europäer diese Fähigkeit künftig selbst abbilden. Das kommt dem innenpolitischen Murren über die US-Rolle als Zahlmeister der NATO entgegen, ist aber angesichts der Unsicherheit über die künftige amerikanische Haltung gegenüber dem Bündnis auch im eigenen europäischen Interesse. Die Rede ist von fünf bis sieben Jahren Entwicklungszeit für den gemeinsamen Flugkörper.

Nach allen Erfahrungen mit militärischen Hochtechnologieprojekten, insbesondere in multinationaler Kooperation, klingt das optimistisch. Allerdings stellte der Lenkwaffenhersteller MBDA kürzlich auf der Rüstungsmesse Eurosatory bereits eine bodenstartende Version des französischen Marine-Marschflugkörpers MdCN vor, der sich im Einsatz befindet und mindestens 1.000 Kilometer Reichweite aufweist. ArianeGroup und Thales schlagen ein eigenes Konzept vor. Wenn die Partner den politischen Willen aufbringen bzw. die Umstände dazu zwingen, ist die Entwicklung einer Variante mit der angestrebten Reichweite von bis zu 2.000 Kilometern technologisch sicher möglich.
Zurück in die 80er
Strategisch gesehen bedeutet das die Rückkehr zur Situation vor dem Abkommen gegen nukleare Mittelstreckenwaffen (INF) von 1987 – wenn auch ohne nukleare Sprengköpfe auf westlicher Seite. Unter den Bedingungen des Kalten Krieges bedeutete INF einen Sicherheitsgewinn für Europa. Diese Absicht war aber auch im NATO-Doppelbeschluss 1979 schon angelegt, der auf die Mittelstreckenraketen SS-20, die von der damaligen Sowjetunion aus ganz Westeuropa erreichen konnten, mit der Stationierung amerikanischer Pershing 2 und Marschflugkörper reagierte.
Damit sollte vermieden werden, dass ein Nuklearkrieg gegen die europäischen NATO-Mitglieder führbar erschien, weil die USA zögern könnten, mit strategischen Waffen gegen sowjetisches Gebiet zu antworten und damit selbst zum Ziel zu werden. Allerdings ging die Entscheidung mit der erklärten Absicht einher, schließlich mit der UdSSR in Verhandlungen über den Abbau der landgestützten Waffen mit 500 bis 5.500 Kilometer Reichweite beider Seiten einzutreten. Und so geschah es.

Die Bundesrepublik Deutschland, obwohl nicht Partei des zwischen USA und UdSSR geschlossenen INF-Abkommens, stellte ebenfalls die Pershing 1A und Lance der Bundeswehr mit kürzerer Reichweite außer Dienst. Ebenso verzichtete Frankreich auf das Nachfolgesystem Hadès für die Kurzstreckenrakete Pluton, obwohl beide wie auch Lance mit weniger als 500 Kilometer Reichweite nicht unter die Bestimmungen des Abkommens fielen. In den USA übernahm die nicht-nukleare ATACMS, die von Mehrfachraketenwerfern MLRS oder HIMARS verschossen werden kann, die konventionelle Rolle der Lance.
Sowjetische, und später russische, Militärplaner waren allerdings nie glücklich über INF. Was weniger mit der NATO als mit chinesischen Mittelstreckenraketen zu tun hatte, die von dem Abkommen nicht erfasst wurden und damit eine neue Rüstungslücke eröffneten. Vor diesem Hintergrund sind auch russische Beschwerden zu sehen, dass amerikanische Raketenabwehrsysteme in Osteuropa (Aegis BMD) – wie das mobile Typhon unter Verwendung von Lenkwaffenstartern der U.S. Navy, die neben Flugabwehrraketen theoretisch auch Tomahawks verschießen können – die Vertragsbestimmungen verletzten.
Auf amerikanische Angebote für ein Inspektionsregime, dass das Fehlen der dazu notwendigen Ausrüstung verifizieren sollte, ging Russland nicht ein, um sich nicht des Arguments für einen möglichen Ausstieg zu berauben. Letztlich machte Donald Trump 2019 mit der Kündigung von INF Wladimir Putin dieses Geschenk und übernahm die Rolle des geschmähten „Aussteigers“. Wobei die amerikanische Begründung, dass die Entwicklung des Marschflugkörpers 9M729 (SS-C-8) – ebenfalls die landgestützte Version einer Marinewaffe – für das Raketensystem Iskander den Vertrag verletzte, nicht weniger stichhaltig war als die russischen Beschwerden zuvor.

Veränderte Lage
Unter der geänderten Sicherheitslage seit 2014 stellte allerdings schon die vertragskonforme Raketenversion von Iskander ein Problem für die osteuropäischen NATO-Mitglieder dar. Und auch für Deutschland, da der nuklearfähige Flugkörper von der russischen Exklave Kaliningrad aus selbst Berlin erreichen kann. Die Abschreckung der NATO gegen solche Kurzstreckensysteme beruht im Wesentlichen auf den in Europa gelagerten amerikanischen B61 Freifallbomben, die im Rahmen der nuklearen Teilhabe von Flugzeugen der Verbündeten eingesetzt würden.
Im konventionellen Bereich verfügte die NATO dagegen bis zur Einführung von Typhon über kein Gegengewicht zu Iskander. Für „Deep Precision Strikes“ gegen russische Ziele im Fall eines Angriffs auf das Bündnis hätte sie auf luft- und seegestützte Marschflugkörper wie Tomahawk, die amerikanische AGM-158 JASSM, den deutsch-schwedischen Taurus oder die britisch/französische Storm Shadow/SCALP zurückgreifen müssen; sowie Luftschläge mit Präzisionswaffen kürzerer Reichweite unter wesentlicher Verwendung des fortschrittlichen Stealth-Flugzeugs F-35.
Der russische Raketenkrieg gegen die Ukraine hat das Ungleichgewicht zwischen Angreifer und Verteidiger nachhaltig demonstriert, verschärft durch die politische Beschränkung der Ukraine, vom Westen gelieferte Waffen nicht gegen Ziele auf russischem Territorium einsetzen zu dürfen. Neben der Flug- und Raketenabwehr sind Schläge gegen die Offensivkapazitäten des Gegners auf seinem eigenen Gebiet, auch mit gegenüber Flugzeugen günstigeren und schwerer aufzuspürenden bodengestützten Systemen, unabdingbar zur Vermeidung eines langdauernden Abnutzungskrieges.
Insofern dienen die künftigen Mittelstreckensysteme in Europa auch der glaubwürdigen konventionellen Abschreckung als Ergänzung zur nuklearen. Dass diese jeweils auf ihrer Stufe funktionieren, erfordert allerdings auch ihre glaubwürdige Trennung. Es gilt der Spruch: „Man sieht der Rakete nicht an, welchen Sprengkopf sie trägt.“ Bislang hat Russland, trotz ständiger Bezeichnung aller möglichen Systeme von Aegis BMD bis zum Jagdflugzeug F-16 als „nuklearfähig“ und entsprechenden Drohungen gegen ihren Einsatz, die Realität dieser Trennung wohlweislich akzeptiert. Doch das Risiko der – auch nuklearen – Eskalation in einem neuen Rüstungswettlauf bleibt.
Stefan Axel Boes