Von Schwalben und Selbstbeschränkung

Der NSR-Nukleus im Bundeskanzleramt soll sich in seiner ersten Sitzung mit aktuellen Bedrohungen befassen. Doch eine Schwalbe macht noch keinen Sommer..
Der NSR-Nukleus im Bundeskanzleramt soll sich in seiner ersten Sitzung mit aktuellen Bedrohungen befassen. Ein strategischer Überflieger ist er noch nicht. © Christina Moritz

Nationalen Sicherheitsrat weiterentwickeln

Von Christina Moritz

Wenn ein Gewitter im Anzug ist, fliegen Schwalben bekanntlich tief. Auch Drohnen können sich in dieser Flughöhe auf Sichtweite bewegen. Allerdings sind sie selbst die Gefahr und deshalb als Grund zur Besorgnis ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Ein mit geringem Kostenaufwand in Massen herstellbares Fluggerät, das zunehmend in Schwärmen daherkommt, mit Künstlicher Intelligenz modifiziert bewegliche Ziele verfolgen kann und so die Abwehr erschwert. Vor allem aber eines, das über jeder deutschen Stadt, jedem Bundeswehrstandort, Flughafen oder Acker auftauchen kann.

In der Wahrnehmung der Deutschen waren Drohnen bislang weit weg, ein Schreckensbringer für die Zivilbevölkerung der Ukraine. Nun sind sie auch in der Bundesrepublik Anlass für das, was mehr als ein Drittel der Staaten weltweit tun würden: die Einberufung des Nationalen Sicherheitsrates (NSR). Doch ist das neue Gremium bereits das, was der Name verspricht? Nach gut zwei Monaten seit dem Kabinettsbeschluss und wenige Tage vor der ersten Sitzung wäre eine abschließende Bewertung verfrüht. Ein Blick darauf, ob die gewählte Konstruktion einer Stabsstelle mit dreizehn Dienstposten und dem in Einrichtung befindlichen Nationalen Lagezentrum in die richtige Richtung weist, muss angesichts imminenter Bedrohungen durch Russland jedoch erlaubt sein.

Im ukrainischen Lwiw setzte Moskau erstmals die ursprünglich für Angriffe auf NATO-Gebiet entwickelten, nuklear bestückbaren R9M729-Marschflugkörper ein. Schon 2018 stufte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg die Waffe als „ernste Gefahr für die strategische Stabilität des euro-atlantischen Raums“ ein. Sicher ist: Mit einer Reichweite von bis zu 2.350 Kilometern könnte diese Modifikation der Iskander-M-Rakete auch Berlin erreichen. Umso einleuchtender ist die Entscheidung von Bundeskanzler Friedrich Merz, in dieser krisenhaften Situation den Nationalen Sicherheitsrat schnellstmöglich einzuberufen, um Gegenmaßnahmen zu diskutieren und zu beschließen.

Es ist nicht zuletzt diese Entscheidungsbefugnis des NSR, für die sich die neue Regierungskoalition entschieden hat, die das Sicherheitsgefüge Deutschlands auf internationales Niveau hebt. Hauptaufgaben eines Nationalen Sicherheitsrates – ob in der Bundesrepublik oder andernorts – sind an erster Stelle jedoch die strategische Beratung und Planung auf der Grundlage eines umfassenden, ständig aktualisierten Lagebildes und die Steuerung in Krisen. Zum jetzigen Zeitpunkt fehlt hierfür einerseits der Aufbau eines geeigneten personellen Unterbaus mit Außenerfahrung im Bundeskanzleramt und des künftig die Vorbereitungsarbeit übernehmenden Ausschusses, andererseits die Integration aller relevanten gesellschaftlichen Akteure und Institutionen außerhalb des Ressortkreises.

All dies dürfte noch einige Zeit in Anspruch nehmen, sollte aber dennoch bald in Angriff genommen werden, um Vulnerabilitäten möglichst schnell zu verringern. Gleiches gilt für den Entwurf einer ersten strategischen Arbeitsagenda für den NSR-Nukleus mit prioritär anzugehenden akuten Themen sowie insgesamt für Überlegungen zu einer Grand Strategie, wo sich Deutschland mittel- bis langfristig sieht. Ob der deutsche Nationale Sicherheitsrat schon die funktionalen Kriterien erfüllt, die ihn weltweit zum gleichwertigen Ansprechpartner machen, wird sich erst an seinen Arbeitsergebnissen ablesen lassen. Zudem ist der geplante Ausschuss zur Vorbereitung der Sitzungen im Kanzleramt noch nicht gebildet, Zeitpunkt, Ort und Zusammensetzung nicht kommuniziert.

Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer

Naheliegend wäre eine Besetzung mit externen Experten – insbesondere aus Wirtschaft, sicherheitsrelevanten Unternehmen des produzierenden Gewerbes oder der Logistikbranche, Trägern kritischer Infrastrukturen, Organisationen des Zivil- und Katastrophenschutzes, der Cyber- und Künstliche-Intelligenz (KI)-Community sowie Bundestag, Ländern, Wissenschaft, Forschung, Verbänden, Denkfabriken und Stiftungen. Diese brächten nicht nur Daten und Fakten, sondern auch eigene strategische Konzepte, Mittel, Personal und ein gerüttelt Maß an praktischer Erfahrung mit ein, über die die Bundesministerien nicht einmal im Verbund verfügen.

Die wenigen, mit einer einzigen Ausnahme ausschließlich intern besetzten Dienstposten im Kanzleramt können vor diesem Hintergrund nur ein Anfang sein. Ob dabei das Prinzip der Bestenauswahl mit Blick auf neue sicherheitspolitische Voraussetzungen angepasst wurde, sei dahingestellt. Dass dort der Nukleus eines Nationalen Sicherheitsrates entsteht und Ressorts, Länder und Nachrichtendienste Beiträge leisten, ist gut und richtig. Auch, dass die erste Sitzung des Gremiums hybride Bedrohungen und die Abwehr von Drohnen zum Gegenstand haben soll. Laut einem Bericht auf bloomberg.com vom 29. Oktober sollen zudem seltene Erden auf der Agenda stehen.

Damit bleibt der Nationale Sicherheitsrat trotzdem unverändert im Krisenreaktionsmodus früherer Sicherheitskabinette und hinter den Erwartungen im In- und Ausland an mehr Strategiefähigkeit in der Bundesrepublik zurück. Dass insbesondere die Abwehr unbemannter, mittlerweile mit KI optimierter Systeme im deutschen Luftraum eine hohe Priorität hat und schnelle Lösungen erfordert, ist unstreitig. Doch die Akteure, die hierzu beitragen sollen, sind mit Ausnahme der Unionsparteien, die Konzepte zu Migration und Zivilschutz in Zeiten hybrider Kriegsführung vorgelegt haben, dieselben wie bisher. Aus Bundessicherheitsrat und Ressorts in internen Ausschreibungen rekrutiert, stehen sie für ein Verharren in alten Strukturen.

Die meisten Staaten mit Nationalen Sicherheitsräten haben sich für drei Sicherheits-Kernressorts als ständige Mitglieder entschieden. Das Finanzministerium entsendet nur in einigen Vertreter, das Digital- und das Entwicklungsministerium lediglich in Deutschland.
Die meisten Staaten mit Nationalen Sicherheitsräten haben sich für drei Sicherheits-Kernressorts als ständige Mitglieder entschieden. Das Finanzministerium entsendet nur in einigen Vertreter, das Digital- und das Entwicklungsministerium lediglich in Deutschland. © Christina Moritz

Den Nationalen Sicherheitsrat gemäß Koalitionsvertrag „im Rahmen des Ressortprinzips“ zu entwickeln, sollte nicht darauf hinauslaufen, dass die Öffnung für externe Expertise aus Wirtschaft, Wissenschaft oder der Cyber- und KI-Community unterbleibt. Der Nationale Sicherheitsrat darf kein closed shop der Bundesministerien sein geschweige denn bleiben. Selbst wenn ein Nationales Lagezentrum etabliert wird, würde dann weiterhin ein Arbeits- und Steuerungsmuskel im Hause des Bundeskanzlers fehlen, der mit auf höchstens drei Jahre bestellten Fachleuten Kompetenz und Analyse auf aktuellstem Stand und die Vermeidung bisheriger Verkrustungen garantiert. Derzeit spricht jedoch noch vieles dafür, dass sich eine solche Fehlentwicklung anbahnt.

Was andere anders machen

Entscheidend ist deshalb, rechtzeitig umzusteuern und gegebenenfalls die Kernbesetzung des Nationalen Sicherheitsrates zu überdenken. In den meisten Staaten mit Nationalen Sicherheitsräten liegt der Schwerpunkt bei militärischer und innerer Sicherheit, also dem Schutz der Bevölkerung im Angriffs- oder Katastrophenfall. Zusätzlich ist das jeweilige Finanzministerium in Australien, Brasilien, Deutschland, Frankreich, Indien, Japan, Kanada, Schweden, Spanien, im Vereinigten Königreich oder in den USA ständiges NSR-Mitglied. Bis auf Deutschland sucht man dort Vertreter des Entwicklungsministeriums vergebens. Das sollte nachdenklich stimmen, zumal dieses im früheren Bundessicherheitsrat nur bei Bedarf hinzugezogen wurde. Das vorherrschende Besetzungsmuster folgt indes nicht aus dem zumeist zentralistischem Staatssystem, sondern der von parteipolitischem Proporz losgelösten strikten Abwägung nach Relevanz eines Ressorts für die Nationale Sicherheit.

Tatsächlich ist die Frage berechtigt, welchen Mehrwert die ständige Beteiligung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung an den Sicherheitsratssitzungen hat. Müsste es nicht vielmehr – wie beispielsweise das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) – erst für die Erörterung spezifischer Themen und Aufgaben hinzugezogen werden? Und wäre dem BBK zur Optimierung gesamtgesellschaftlicher Resilienz am Ende nicht der Vorzug als ständiges NSR-Mitglied zu geben? Denn dieses zeichnet verantwortlich für an jeden Haushalt zu verteilende Informationsbroschüren zu Bevorratung und Verhalten in Krisenlagen sowie für das bundesweite Alarmsystem und Schutzeinrichtungen. Und wer, wenn nicht das BBK, könnte bundesweite Informationskampagnen zu hybriden Bedrohungen durchführen, wie sie die Union in einem Konzeptpapier plant?

Wie die Prioritäten hierzulande in Zukunft gesetzt werden, wenn die Arbeit des NSR an Fahrt aufnimmt, bleibt abzuwarten. Fragte man die europäischen Nachbarn, wäre die Antwort ein klares ‚Ja‘ zugunsten des Bundesamtes. Wie ist es ferner um die gedankliche Vorarbeit in Deutschland bestellt? Der Glaube an strategische Beiträge deutscher Denkfabriken (auch: Think Tanks) ist löblich, aber nur in Teilen zielführend. Diese haben abgesehen von einem auf Strategische Vorausschau spezialisierten Wissenschaftler und den aus dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung jahrelang abgeordneten Verbindungsoffizieren bislang wenig praktisch Verwertbares für politische Entscheider beigesteuert. Fokussiert auf Länderanalysen und die Darstellung internationaler Entwicklungen melden sie schon jetzt Fehlanzeige, wenn es um die Analyse wirtschaftsstrategischer Abhängigkeiten wie bei seltenen Erden geht.

Selbstbeschränkung führt in die Sackgasse

Es dürfte dauern, bis sie sich – auch personell – auf den neuen Forschungsbedarf eingestellt haben. Einstweilen suchen sie jeder für sich und ohne übergeordnete Koordination in Workshops nach externer Expertise, was strategisch betrachtet ein unhaltbarer Zustand ist. Hier rächt sich jahrzehntelange Selbstbeschränkung auf liebgewonnene oder parteipolitisch opportune Forschungsschwerpunkte, wie sie häufig auch an Universitäten praktiziert wurde. In Denkfabriken ausgeschriebene Stellen zum Thema Resilienz lassen zumindest mittelfristig auf erste belastbare Ergebnisse hoffen. Die Selbstbeschränkung auf Ressortvertreter bei der Besetzung des Nationalen Sicherheitsrates und daraus resultierend bei der Abfrage des umfänglich vorhandenen externen Fachwissens im Lande führt, wenn sich diese Praxis fortsetzt, zwangsläufig zu Stagnation und fortgesetzter Fragmentierung oder Doppelarbeit statt Fortschritt und Synergiebildung.

Damit alle Fachleute – unter eigenem Namen – zu Wort kommen können, braucht es ein virtuelles Meldeportal für Ideen und Lösungsvorschläge. So dürften sich neue Wissenspotentiale und Prioritäten leichter erschließen. Außerdem wäre dies eine weniger zeitraubende und deutliche effektivere Alternative zu den begonnenen bilateralen oder in kleineren Kreisen stattfinden Hintergrundgesprächen. Der nötigen Verdrahtung und Arbeitsteilung zwischen Staat und Gesellschaft dürfte ein solches Portal in jedem Fall zugutekommen. Denn es ermöglicht Beteiligung jedes Einzelnen. Auf diese wird es ankommen, wo die Bundesregierung nicht für alles Sorge tragen kann und eigene Beiträge der Bevölkerung zu mehr Widerstandsfähigkeit und Miteinander nötig werden.

Schwalbe gegen Drohne – noch scheint es ein ungleicher Kampf zu sein. Mit einer in ihrer Fülle „neuen Art der Konfrontation“, wie es BND-Chef Martin Jäger ausdrückt. Doch nicht die Masse der Vögel, sondern ihr untrügliches Gespür für das richtige Verhalten im Angesicht der Bedrohung entscheidet über Erfolg oder Misserfolg. Wer dagegen ausschließlich auf seelenlose Technik setzt, läuft Gefahr, durch ebensolche zu Fall gebracht zu werden. Zumal, wenn sie mit menschlicher Kombinationsgabe, Transferleistung und gemeinsamen Wirken füreinander kombiniert wird, was bisher noch keine KI leisten kann. Sich hierfür aufzustellen und optimale Rahmenbedingungen für mehr Schutz und Sicherheit zu schaffen, ist die Mammutaufgabe, die der Bundeskanzler neben vielfältigen weiteren steuern muss.

Vielleicht wird es hierfür der einen oder anderen Grundsatzentscheidung zu Strukturen, Verfahren und Schwerpunktsetzungen qua Richtlinienkompetenz bedürfen. Anfangs dürfte es aber schon genügen, die Konzepte der relevanten Akteure zu finden, zu verbinden, zu priorisieren und in einer Gesamtstrategie abzubilden. In der Tat ein anspruchsvolles Portfolio für den noch jungen Nationalen Sicherheitsrat. Seine Chance liegt in der Schließung noch vorhandener Lücken, stetiger Weiterentwicklung und der Nachjustierung, wo erforderlich.

 

Die Berliner Politologin Christina Moritz forscht und promoviert zu ihrem Modell für einen deutschen Nationalen Sicherheitsrat, das sie 2016 erstmals vorgestellt hat. Nachdem sich die Expertin für die Schaffung des NSR eingesetzt hat, befürwortet sie seine Weiterentwicklung zum Steuerungsinstrument gesamtgesellschaftlicher Resilienz.

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