In dieser Woche jährte sich der Terrorangriff der Hamas und anderer islamistischer Gruppen aus dem Gazastreifen auf Israel vom 7. Oktober 2023 zum zweiten Mal. Mit dem Gespür für Dramatik, dass die Geschichte – oder ihre Protagonisten – manchmal hat, stimmten beide Seiten wenige Tage danach dem von der US-Regierung unter Donald Trump vermittelten Abkommen zu, das die nachfolgenden Feindseligkeiten hoffentlich endgültig beendet und die verbleibenden israelischen Geiseln, lebendig oder tot, nach Hause bringt. Skepsis bleibt angebracht: schon zweimal gab es Feuerpausen, bei denen ein Teil der Geiseln im Austausch gegen palästinensische Insassen von israelischen Gefängnissen freikamen. Zumindest beim zweiten Mal gab es auch Pläne für eine endgültige Konfliktbeilegung. Doch im Nahen Osten ist das mit Friedensabkommen bekanntlich so eine Sache.
Die Hamas hatte, und hat vermutlich auch weiterhin, kein Interesse an einem dauerhaften Frieden. Manche Parteien in Israel allerdings auch nicht. Insofern muss man allein die Leistung der Trump-Administration bewundernd anerkennen, dass beide Seiten nun zumindest dem Plan dafür zugestimmt haben – auch wenn es für den Friedensnobelpreis schon aus Termingründen wieder nicht gereicht hat. Und wer weiß, ob sich dieser Nominierungsgrund bei der nächsten Runde in einem Jahr nicht schon wieder erledigt hat. Bislang sieht es gut aus: Die Waffen schweigen, die israelische Armee zieht sich in Gaza auf die vereinbarten Linien zurück, und die Geiseln sollen bis kommenden Montag in Freiheit sein. Doch wie dauerhaft kann der Friede zwischen beiden Gesellschaften sein, die selbst in inneren Konflikten gefangen sind?
Ein katastrophaler Oktober
Die Auswirkungen der Massaker und Entführungen vom 7. Oktober auf Israel waren gerade deshalb so katastrophal, weil sie eine bereits tief zwischen dem weitgehend säkularen Mitte-Links-Lager, der nationalreligiösen Rechten und der wachsenden ultra-orthodoxen Gemeinschaft gespaltene Bevölkerung trafen. Die Polarisierung hatte mit dem Versuch des Staatsumbaus durch die rechtsgerichtete Koalitionsregierung von Benjamin Netanjahu und den monatelangen Massenprotesten dagegen ohnehin einen Höhepunkt erreicht. Zentral war die Beschneidung der Macht des Obersten Gerichtshofes, der – nicht zuletzt aufgrund des Fehlens einer einheitlichen geschriebenen Verfassung – tatsächlich eine für westliche Demokratien ungewöhnliche Fülle derselben hat. So stimmt auch eine Mehrheit der Israelis in der Notwendigkeit einer Reform überein.
Der blatante Eigennutz der Bestrebungen unter Netanjahu, die nicht zuletzt dem eigenen Schutz vor Strafverfolgung dienten und zudem von Maßnahmen zur Sicherung der Kontrolle über künftige Wahlen und Parlamentsmehrheiten begleitet waren, spaltete die Lager jedoch vollends. In dieser Situation wurden genau die südisraelischen Siedlungen zum Ziel der Hamas, die von der wesentlich für den Aufbau des Landes verantwortlichen eher linksgerichteten Kibbuz-Bewegung getragen wurden. Bittere Ironie: viele der Opfer hatten sich zuvor für Frieden mit den Palästinensern und die Zwei-Staaten-Lösung ausgesprochen. Es war vielleicht diese Bitterkeit, die anschließend zur Heftigkeit neuer Vorwürfe gegen die Regierung Netanjahu beitrug. Etwa, dass diese quasi am Vorabend des Angriffs Truppen von der Grenze Gazas ins Westjordanland verlegt habe, um dort wiederum rechtsgerichtete Siedler zu schützen.
Eine Frage der Emotionen
Dass die Situation im Westjordanland sich nicht zuletzt deswegen verschärft hat, weil Minister von Netanjahus Koalitionspartnern die Angriffe radikaler Siedler auf palästinensische Dörfer nicht nur duldeten, sondern offen unterstützten, lud diesen Vorwurf zusätzlich auf. Nicht ganz neu war ein anderer, dass die jetzige wie auch die Vorgängerregierungen – die meisten gleichfalls unter Führung Netanjahus – die Herrschaft der Hamas im Gazastreifen geduldet hätten, weil die Spaltung der Palästinenser zwischen dieser und der offiziellen Autonomiebehörde im Westjordanland eine von rechter Seite abgelehnte Zwei-Staaten-Lösung verhindert. Noch kurz vor dem 7. Oktober sei zugelassen worden, dass kofferweise Bargeld von der Hamas-Exilführung in Katar eingeflogen wurde, um die Organisation vor Ort am Laufen zu halten.
Vor allem die Geiselfrage wurde nach kurzer nationaler Einheit während des Schocks über das schlimmste Massaker an Juden seit dem Holocaust zu hochemotionaler Politik, und von Vertretern linker Parteien auch als Rammbock gegen Netanjahu instrumentalisiert. Viele der schnell organisierten Opferfamilien forderten, dass der Staat auf alles eingehen müsse, um ihre Angehörigen zurückzubringen. Menschlich verständlich, und in einem kleinen Land wie Israel, dass sich als Schutzort der vielfach verfolgten Juden aus aller Welt versteht, lange bis zur Schmerzgrenze in Regierungshandeln umgesetzt. Wiederholt wurde eine weit höhere Zahl palästinensischer Häftlinge, selbst Terrorunterstützer, gegen lebende und auch tote israelische Geiseln eingetauscht. Wörtlich genommen, hätte die Regierung aber nach diesen Forderungen wirklich jede Bedingung der Hamas bis hin zur staatlichen Selbstaufgabe erfüllen müssen.

Ein Land mit begrenzten Kräften
Das konnte offensichtlich nicht umgesetzt werden, zumal die politische Rechte die bisherige Praxis des disproportionalen Austauschs ohnehin beenden wollte. Rechtsgerichtete Politiker blieben der Linken hinsichtlich Emotionalisierung allerdings nichts schuldig und erklärten die organisierten Opferfamilien praktisch zu Verrätern. Im Gefolge des 7. Oktobers witterten sie ihrerseits die Chance, langgehegte Vorstellungen von der offiziellen Annexion und jüdischen (Wieder)-Besiedelung sowohl von Gazastreifen als auch Westjordanland umzusetzen – bis hin zur offen angesprochenen vollständigen Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung. Was Netanjahu selbst betraf, so gab er bald nach Beginn der israelischen Gegenoffensive im Gazastreifen zunächst dem Druck für eine Feuerpause und einem weiteren disproportionalen Tausch Geiseln gegen Häftlinge nach. Allerdings wohl auch, weil Israel schnell an den Rand seiner Kräfte gelangte.
Denn die militärische Stärke des Landes ist stark mobilisierungsabhängig, was sich in den zumeist kurzen siegreichen Kriegen seiner Geschichte bewährt hat. Doch Umfang und Dauer der Einberufung von Reservisten nicht nur für die Gaza-Offensive, sondern auch den Schutz der sonstigen Landesgrenzen war beispiellos. Sie führten bereits nach wenigen Wochen zu erheblichen wirtschaftlichen Problemen, weil sowohl Unternehmer als auch Angestellte an ihren Arbeitsplätzen fehlten. Andererseits war ein schnelles Kriegsende innenpolitisch ebenfalls keine Option. Die Eliminierung der Hamas als funktionsfähiger Akteur war nach deren Angriff auf das israelische Selbstverständnis praktisch Staatsräson. Und Netanjahu musste schon aus Eigeninteresse die Vorstellung seiner radikalen Koalitionspartner von der vollständigen Besetzung mindestes des Gazastreifens bedienen.
Ein Widerspruch von Interessen
Dieses Eigeninteresse wurde wiederum zum Vorwurf aus dem Mitte-Links-Lager. Je länger der Krieg dauerte, desto mehr schien es, dass er vor allem dazu diente, die Regierungskoalition zusammenzuhalten, die Abrechnung über ihre politische Verantwortung für den 7. Oktober an der Wahlurne und den Verlust von Netanjahus persönlicher Immunität im laufenden Korruptionsverfahren gegen ihn zu vermeiden. Dieser Eindruck wurde dadurch verstärkt, dass er gleichzeitig den Forderungen seiner ultra-orthodoxen Koalitionspartner entgegenkam, ihre Wähler weiterhin vom Wehrdienst auszunehmen. Obwohl das von seiner Regierung bekämpfte Oberste Gericht mehrfach dagegen geurteilt hatte, ging der Premierminister so weit, einen Knesset-Ausschussvorsitzenden seiner eigenen Partei abzusägen, der ein Sanktionspaket gegen dienstunwillige Tora-Schüler vorbereitet hatte.
Beide Flügel der Koalition drohten damit, die Regierung platzen zu lassen, wenn ihre widersprüchlichen Forderungen nicht erfüllt würden – und verliehen dem auch durch zumindest zeitweise Rückzüge Nachdruck. Während also Reservisten mehrfach und manchmal fast durchgehend zum Wehrdienst einberufen wurden, während ihre Gestellungszahlen sich von anfänglich über 100 Prozent mit zunehmender Kriegsmüdigkeit auf die Hälfte reduzierten, blieben Ultra-Orthodoxe weitgehend verschont. Nach der Geiselfrage spaltete wohl nichts die israelische Gesellschaft so sehr wie dieser schon lange zuvor schwelende Konflikt, der auch die nationalreligiöse Rechte empörte. Zumal sich der Krieg nach und nach zur generellen Abrechnung mit der iranisch geführten anti-israelischen Achse in der gesamten Region ausweitete.
Eine folgerichtige Ausweitung
Strategisch war das folgerichtig und über die meisten Erwartungen erfolgreich. Mit der Zerschlagung der libanesischen Hisbollah als handlungsfähiger Akteur und dem etwas unverhofften Fall des Assad-Regimes in Syrien blieben eigentlich nur noch die jemenitischen Huthis als potente Stellvertretertruppe des Iran übrig. Ihre Kampagne gegen die Schifffahrt im Roten Meer und der Raketenbeschuss Israels selbst wurde zweimal auch von direkten Langstrecken-Schusswechseln zwischen Israel und dem Iran punktiert. Beim zweiten Mal kam Israel seinem lang gehegten Ziel der Ausschaltung des Mullah-Regimes samt dessen Atomprogramm zumindest nahe. Befördert, aber zugleich abgewürgt wurde das durch die amerikanische Bombardierung der Atomanlagen. Donald Trump erklärte anschließend den totalen Sieg, allerdings eben auch das Ende der Veranstaltung.
Spätestens ab da bestimmte die dynamische persönliche Beziehung zwischen Trump und Netanjahu den weiteren Fortgang. Letzterer schien nach Trumps Wahlsieg anfänglich zu glauben, nun aller äußeren Beschränkungen durch die vorherige US-Administration unter Joe Biden, und damit auch den Rest der Welt, ledig zu sein. Diesem gegenüber agierte seine Regierung zunehmend autistisch und verspielte damit, nicht unähnlich den USA nach den Terroranschlägen des 11. Septembers 2001, die anfänglich vorhandene internationale Unterstützung. In beiden Fällen gab es ohnehin von Anfang an massive Versuche der Entschuldigung, Relativierung und Umdeutung bis zur Täter-Opfer-Umkehr seitens eines globalen anti-westlichen, vielfach verschwörungstheoretisch bis antisemitisch geprägten Lagers. Aber eben auch Schock und Mitgefühl, das sich in konkreter Hilfe auf Regierungsebene ausdrückte.

Eine unausweichliche Brutalisierung
Aus der unmittelbar betroffenen israelischen Sicht musste letzteres als selbstverständlich, jede äußere Kritik dagegen als maßlos erscheinen. Wobei sich sowohl maßlose als auch gerechtfertigte Kritik eben durchaus auf den inneren Konflikt in Israel beziehen konnte. Im Licht der hochemotionalen Geiselfrage stellte dort nichts so sehr das Vorgehen im Gazastreifen infrage wie die Tötung dreier entkommener Geiseln durch israelische Truppen schon in den ersten Monaten. Dies war sicherlich durch die Umstände erklärbar, doch zeichneten weitere Vorfälle bis hin zu den Schüssen auf Palästinenser an Verteilstellen für humanitäre Hilfe dieses Jahres das Bild einer mindestens überforderten, vielleicht disziplinlosen, im schlimmsten Fall systematisch regelverachtenden Armee. Die unausweichliche Brutalisierung von Truppen und Gesellschaften durch langdauernde Konflikte tat sicherlich ein Übriges.
Das gilt selbst für eine Armee, die gerne als moralischste der Welt bezeichnet wird – aber deren Geist nach Meinung interner Kritiker bereits durch jahrzehntelangen zermürbenden Besatzungsdienst in den Palästinensergebieten gebrochen worden ist. Auch wohlmeinende Mahnungen zu ihrem Kurs von außen tat die Regierung Netanjahu jedoch formelhaft als antisemitisch und nur der Hamas nutzend ab, während sich die internationale Meinung zunehmend gegen sie wandte. Als mehrere Verbündete ein Signal durch die Anerkennung eines Palästinenserstaates ankündigten, behauptete sie, dass dies Hamas zum Abbruch von unmittelbar vor dem Erfolg stehenden Gesprächen über ein Kriegsende in Katar ermutigt habe. Obwohl sie selbst die israelische Delegation am Tag vor den entsprechenden Erklärungen abberufen hatte.
Ein Schritt zu weit
Mit dem Angriff auf die Hamas-Führung in Katar – die ihm ja laut einheimischer Kritiker vor dem 7. Oktober noch so gut ins Konzept passte – ging Netanjahu schließlich einen Schritt zu weit. Trump, der das Scheitern seines ersten Friedensplans an den israelischen Koalitionswidersprüchen noch hingenommen hatte, konnte jenseits aller Nobelpreisträume die möglichen strategischen Folgen der Aktion gegen einen wichtigen US-Verbündeten in der Golfregion nicht ignorieren. Nicht nur zwang er Netanjahu bei seinem letzten Besuch in Washington, dem Emir von Katar telefonisch eine vorbereitete Entschuldigung zu übermitteln, sondern garantierte offenbar der Hamas auch die vollständige Umsetzung eines neuen Abkommens durch Israel. Zugute kam ihm dabei nach amerikanischen Quellen, dass sich die Stimmung im Gazastreifen mittlerweile eben doch gegen die Islamisten gewendet habe.
Demnach hatte auch die Hamas mittlerweile das weitere Festhalten an den Geiseln und die Fortsetzung des Krieges als nachteilig für sie erkannt. Gibt sie die letzten davon frei und tatsächlich ihre Waffen auf oder verlässt Gaza, wie es der Plan vorsieht, kann Netanjahu nach zwei Jahren das Kriegsziel als erreicht und alle Kämpfe und Entbehrungen als von Erfolg gekrönt bezeichnen. Seine Beliebtheitswerte in Israel stiegen jedenfalls nach der Zustimmung seines Kabinetts zu dem Abkommen. Die Nationalreligiösen, die ihre großisraelischen Vorstellungen sicher nicht aufgegeben haben, schwiegen diesmal, auch wenn sie die vorgesehenen arabischen Friedenstruppen und dem Wiederaufbau im Gazastreifen weiter ablehnen. Wohl auch, weil Netanjahu überraschend die US-Vermittler Steve Witkoff und Jared Kushner zur Kabinettsitzung mitbrachte.
Eine Hoffnung für die Zukunft
Noch wird über die Details des Austauschs verhandelt. Netanjahu hat bereits gedroht, dass der Krieg weitergehen werde, wenn die israelischen Forderungen nicht auf einfachem Wege erfüllt werden. Insgesamt scheinen die Zeichen jedoch diesmal wirklich auf dessen Ende zu stehen, da Trump gewillt scheint, dies auf ähnlich robuste Weise durchzusetzen wie seinerzeit gegen den Iran. Womit die Frage vom Anfang bleibt: können die Israelis – und auch die Palästinenser – den Kampf um den inneren Frieden gewinnen? Nach langer politischer Spaltung der israelischen Gesellschaft schon vor dem Krieg, nach der Eskalation über den versuchten Staatsumbau, dem Grauen des 7. Oktobers, den Verletzungen des nochmals verschärften inneren Konflikts und der globalen Flut des Antisemitismus, den Verlusten und der Brutalisierung des beispiellos langen Krieges?
Für die Palästinenser, die weder das gesellschaftliche Handwerkzeug noch die praktischen Möglichkeiten oder ein Staatswesen überhaupt zum inneren Kampf über dessen Zukunft mit zivilen Mitteln haben, sind die Voraussetzungen noch schlechter. Stimmt es, dass sich die Stimmung der Bevölkerung in Gaza gegen die islamistische Gewaltherrschaft der Hamas gewendet hat, wäre immerhin das ein teuer erkaufter Schritt. Auch hier bleibt Skepsis angebracht, ob nicht der Hass innerhalb der Gesellschaft und vor allem gegen Israel weiter alles überdecken wird. Es regiert das Prinzip Hoffnung, dass soviel Leid wie in den letzten zwei Jahren irgendwie doch eine Wende zum Besseren bewirken kann. Und die Hoffnung stirbt zuletzt.
Stefan Axel Boes



