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Mit 37 Flügen mehr als 5.300 Menschen gerettet: Interview mit Oberst Christian John, Kommodore Lufttransportgeschwader 62

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Sehr geehrter Herr Oberst, wie lief der Evakuierungseinsatz ab?
Nach dem sich bereits in der Vorwoche eine Lageverschärfung in Afghanistan abzeichnete, erfolgte die erste Kontaktaufnahme mit dem Verband durch das Einsatzführungskommando der Bundeswehr nach der Krisensitzung des Auswärtigen Amtes, am Freitag, dem 13.08.21 gegen Mittag.  Erste Planungen für einen möglichen Evakuierungseinsatz setzten unmittelbar ein. Fachpersonal des Verbandes verlegte noch am Wochenende in das Einsatzführungskommando, um die dort eingerichtete Führungszelle mit Lufttransportexpertise zu verstärken. Das Gefechtsstandpersonal des Geschwaders wurde verstärkt und längerfristig durchhaltefähig aufgestellt. Noch am Wochenende wurde Taschkent als Forward Operating Base für die Evakuierungsoperation festgelegt.

Die finale Beauftragung erfolgte am frühen Morgen des 15.08.2021 durch die Einsatzzelle des Einsatzführungskommandos. Zu diesem Zeitpunkt war das Personal der Einsatzbesatzungen und der Führungszelle für die Koordination in Taschkent bereits identifiziert und in Bereitschaft versetzt. Die Technische Gruppe erhöhte zeitgleich ihre Kapazitäten durch angepasste Schichtmodelle und erweiterte Rufbereitschaften.

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Chefredakteur Burghard Lindhorst sprach mit Oberst Christian John auf dem Fliegerhorst Wunstorf. (Foto ©Decker)

Am Montag, den 16.08.21 verlegte eine erste Welle von drei geschützten A400M in das Einsatzgebiet. Ein als MedEvac gerüsteter A400M mit dem Personal der Einsatzzelle und technischem Personal, verlegte über Baku in Aserbeidschan direkt nach Taschkent. Der A400M MedEvac verblieb in der Folge in Taschkent, um die medizinische Rettungskette sicherzustellen und zu koordinieren.
Zwei A400M hatten den Auftrag, Kräfte der Division Schnelle Kräfte zur Sicherung und Unterstützung der Evakuierung auf dem Flughafen Kabul zu bringen und wenn möglich, auf dem Rückflug nach Taschkent Menschen zu evakuieren. Auf der ersten der beiden Maschinen befand sich Brigadegeneral Arlt, der Kommandeur Luftlandebrigade 1, der die Operation führen sollte. Während die beiden Luftfahrzeuge noch unterwegs waren, spielten sich in Kabul chaotische Szenen ab. Der Flugplatz würde überrannt und musste in der Folge temporär für den Flugbetrieb geschlossen werden. Der erste A400M ging in eine Warteschleife über Kabul und musste, nachdem der erforderliche Mindestkraftstoff erreicht war, unverrichteter Dinge nach Taschkent weiterfliegen. Der zweite A400M löste den ersten in der Warteschleife ab. Circa zehn Minuten bevor der Mindestkraftstoff erreicht wurde, wurde der Flugplatz Kabul durch die US-Kräfte wieder für den Flugbetrieb freigegeben. Die Besatzung landete, setzte die Kräfte der DSK ab und flog mit einer noch geringen Anzahl an „Evakuees“ nach Taschkent weiter.

Am 17.08.2021 folgte ein weiterer A400M mit Versorgungsgütern, wie Reifen, Werkzeug, Trinkwasser und Lebensmitteln.  Am 20.08.2021 wurden zwei Leichte Unterstützungshubschrauber (LUH) des HSG 64 mit zwei A400M von Wunstorf aus nach Kabul verlegt. Insgesamt wurden bis zu sieben A400M und ein A310 im Rahmen der Operation eingesetzt.

Ab dem 17.08.2021 wurde dann der Evakuierungsflugbetrieb von Taschkent aus aufgenommen. In der Folge fanden täglich zwischen drei und fünf Flüge täglich statt. Die Vergabe der Landeslots erfolgte dabei durch die US-Seite und setzte damit die Rahmenbedingungen für die Evakuierung. Insgesamt konnten mit dem A400M bei 37 Flügen, über 5.300 Menschen aus 45 Nationen evakuiert werden.
Am 26.08.2021, dem Tag des Anschlages in Kabul, wurde der Evakuierungseinsatz beendet. Nach einer Übernachtung in Taschkent verlegten große Teile des Kontingentes mit zwei A400M und dem A310 am 27.08.2021 zurück nach Wunstorf. Am folgenden Samstag und Sonntag folgen jeweils zwei weitere A400M, die verbliebenes Personal und Material von Taschkent nach Wunstorf zurückbrachten.

Wo lagen die besonderen Herausforderungen?
Die Herausforderungen lagen vor allem beim Aufbau einer Forward Operating Base in Taschkent. Zahlreiche organisatorische und vor allem administrative Hürden waren zu nehmen. So zeigten sich die usbekischen Behörden zunächst nicht sonderlich kooperativ. Infrastruktur stand nicht zu Verfügung, ein provisorischer Gefechtsstand musste im Laderaum eines der Luftfahrzeuge eingerichtet werden und immer dann, wenn das Luftfahrzeug eingesetzt wurde in ein anderes verlegt werden. Glücklicherweise befand sich im Kontingent ein Soldat mit fließenden Russischkenntnissen, der in Zusammenarbeit mit dem Militärattaché einen Teil der Koordination mit den lokalen Behörden übernehmen und als Sprachmittler fungieren konnte.

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Die deutschen A400M in Taschkent. (Foto Bundeswehr/Marc Tessensohn)

Kritisch war auch der Faktor materielle Einsatzbereitschaft. Da die Verfügbarkeit von geschützten A400M zunächst nicht ausreichte, musste der für den Einsatz Counter Daesh eingesetzte A400M aus Jordanien abgezogen und nach Taschkent verlegt werden. Im weiteren Verlauf konnte die Technische Gruppe des LTG 62 innerhalb kürzester Zeit, eine hohe Anzahl an geschützten A400M, verlässlich und konstant, für die Evakuierungsmission bereitzustellen. Von besonderer Bedeutung war dabei die ständige Überwachung der eingesetzten Luftfahrzeuge, im Bezug auf Restflugstunden und Triebwerkszyklen. Da hierfür immer noch keine Betriebsführungssoftware zur Verfügung steht, musste diese kontinuierlich Analyse durch ein eigens dafür verstärktes, schichtfähiges Team händisch erfolgen. Insgesamt haben sich die eingesetzten Luftfahrzeuge jedoch als äußerst zuverlässig erwiesen.

Aus fliegerischer Sicht bestanden die Herausforderungen vor allem in den teils chaotischen Verhältnissen auf dem Flugplatz Kabul und der fehlenden Luftverkehrskontrolle im Luftraum über Kabul. Zeitweise war der Flughafen nicht beleuchtet. Sowohl in der Luft als auch am Boden kamen Nachsichtgeräte zum Einsatz. Die Luftfahrzeugführer waren wieder mit schnell ändernden Lagen konfrontiert auf die flexibel und schnell reagiert werden musste.  

Geholfen hat ihnen dabei die teilweise Außerkraftsetzung von im regulären Flugbetrieb geltenden Vorschriften für diesen Einsatz. Beispielhaft sei hier die Billigung vom Transport von Passagieren ohne ausreichende Sitzplätze genannt.

Welche Erfahrungen haben Sie gewonnen?
Für mich hat dieser besondere Einsatz gezeigt, dass das LTG 62 außerordentlich kurzfristig in der Lage ist, die Ressourcen zu mobilisieren, die zur Bewältigung einer solchen extremen Auftragslage notwendig sind. Es hat sich weiterhin gezeigt, dass gerade die in der taktischen Ausbildung der Besatzungen gesetzten Standards und Inhalte richtig und in solchen Extremsituationen jederzeit abrufbar sind. Die Führungsleistung der eingesetzten Kommandanten ist exzellent.

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Möglichst viele Menschen retten – auch jenseits der üblichen Bestimmungen. (Foto Bundeswehr/Marc Tessensohn)

Zusätzlich konnten wir sehr wertvolle Erkenntnisse für zukünftige Übungsszenarien gewinnen, um die Ausbildung und Vorbereitung auf solche Situationen noch weiter zu optimieren.
Dennoch hat sich bestätigt, dass die Verfügbarkeit von einsatzklaren Luftfahrzeugen weiterhin einen kritischen Faktor darstellt. Dieser Einsatz konnte nur durch maximalen Einsatz aller verfügbaren Ressourcen, einschließlich des Abzug eines im Einsatz Counter Daesh befindlichen Luftfahrzeugs, zum Erfolg geführt werden.

Noch immer stehen 50 % der verfügbaren Luftahrzeuge zur Durchführung von planbaren Wartungsmaßnahmen oder Retrofits in der Industrie. Die Rückgabe der Luftfahrzeuge an das Geschwader verzögert sich regelmäßig. Die Ersatzteilversorgung ist nach wie vor auf einem nicht akzeptablen Niveau. Selbst die sogenannten AOG (Aircraft on Ground) Ersatzteile, d.h. Teile, die zur unmittelbaren Wiederinbetriebnahme eines Luftfahrzeugs nach einer Störung erforderlich sind, können oftmals nicht zeitgerecht geliefert werden. Dazu kommen bereits angesprochenen fehlende Betriebsführungssystem und diverse Sonderinspektionen, die regelmäßig zu Verzögerungen im Betriebsablauf der Technischen Gruppe führen.

Aus diesem Sachverhalt ergibt sich auch der Schwerpunkt und die Zielsetzung meines Handelns als Verbandsführer. Es ist zwingend erforderlich, die Verfügbarkeit von Luftfahrzeugen nachhaltig zu erhöhen. Es wird darauf ankommen, gemeinsam mit der Industrie Handlungsfelder zu erschließen, die geeignet sind, die technischen Kapazitäten zu erhöhen, Prozesse zu optimieren und die Produktreife des A400M mit den Erfahrungen aus dem Einsatz weiter zu verbessern.

Nur mit einem soliden Einsatzklarstand wird es möglich sein, die Ausbildung der Besatzungen quantitativ zu verbessern und den Bedarf der Streitkräfte in allen Fähigkeitsprofilen des A400M zufriedenstellend zu decken.

Sehr geehrter Herr Oberst, vielen Dank für die interessanten Informationen!

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