Manchmal möchte man mit seinen Ahnungen lieber nicht recht behalten. Vor sechs Wochen wurde an dieser Stelle schon einmal vorsorglich auf die Fallhöhe bei der Diskussion um das Wehrdienstgesetz hingewiesen. Da hatte das Bundeskabinett gerade dessen Entwurf verabschiedet, nachdem das CDU-geführte Außenministerium kurz vorher noch einen Leitungsvorbehalt gegen diesen zurückgezogen hatte. Grund waren Forderungen aus der Unionsfraktion im Bundestag, die Ziele für die Rekrutierung Freiwilliger in den kommenden Jahren verbindlich im Text festzuschreiben und bei deren Nichterreichen die ausgesetzte Wehrpflicht wieder zu aktivieren. Die SPD – die ihrerseits aufgrund eines widersprüchlichen Parteitagsbeschlusses pro Reaktionsfähigkeit, aber contra Automatismen bei Verschärfung der Sicherheitslage zuvor noch entsprechende Passagen gestrichen hatte – zeigte sich damals schon irritiert, dass damit nicht auf den parlamentarischen Beratungsprozess gewartet würde.
Das hielt CDU und CSU nicht davon ab, vor zwei Wochen die erste Lesung des Gesetzentwurfs von der Tagesordnung des Bundestages zu nehmen. Nach weiteren Verhandlungen zwischen den Koalitionspartnern wurde dieser verschlimmbessert, indem unter anderem ein Losverfahren bei den 18-jährigen Männern ins Auge gefasst wurde, die ab kommendem Jahr zum Ausfüllen eines Fragebogens betreffs Wehrtauglichkeit und -willigkeit verpflichtet werden sollen. Während nach bisheriger Planung ab 2027 auch alle anschließend zur Musterung geladen würden, würde dies dann nur noch für die Ausgelosten gelten. Falls sich nicht genug Freiwillige fänden, könnten sie überdies zu dem im Entwurf bereits angelegten Grundwehrdienst von sechs bis zwölf Monaten Dauer herangezogen werden.
Pistorius bläst zum Aufstand und die Presse wartet vergeblich
Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius, der an den Verhandlungen offenbar nicht beteiligt war, blies daraufhin in der SPD-Fraktion zum Aufstand gegen die Verwässerung seines Konzepts, einen möglichst großen Pool potenzieller Rekruten zu schaffen. Die öffentliche Reaktion konzentrierte sich auf die mögliche Heranziehung zum tatsächlichen Wehrdienst per Los. Was gar nicht das eigentliche Problem war. Die unvermeidliche verfassungsgerichtliche Beurteilung dieser Form von Wehrgerechtigkeit wäre zwar spannend geworden. Sie wird aber nicht nur in den vielfach als Vorbild genannten skandinavischen und baltischen Staaten praktiziert. Beispiele lassen sich auch in der deutschen Geschichte selbst finden. Einschließlich der Aufbauphase der Bundeswehr, als die Zahl wehrpflichtiger Männer wie heute die Ausbildungs- und Unterbringungskapazitäten zunächst überstieg.
Aus der Sicht von Pistorius musste vielmehr die Begrenzung des gemusterten Pools auf die Ausgelosten praktisch als Sabotage erscheinen. Am Dienstag dieser Woche platzte der Kompromiss dann kurz vor der bereits angesetzten Pressekonferenz zur Einigung. Immerhin wurde der ursprüngliche Gesetzentwurf am Donnerstag in der ursprünglichen Form doch noch in den Bundestag eingebracht. Was sich die Unterhändler der Union bei der ganzen Sache gedacht hatten, ist rätselhaft. Der Vorschlag wirkte wie eine Paarung von Steckenpferden beider Parteien: auf jeden Fall irgendwie Wehrpflicht, aber auf jeden Fall irgendwie so wenig wie möglich. Gerade CDU und CSU scheinen beim Herumreiten auf ihrem Holzklepper schon seit einiger Zeit eine Weisheit Voltaires vergessen zu haben: Das Bessere ist der Feind des Guten.

Die Koalition streitet im Sandkasten und Weidel macht Brezeln
Auf beiden Seiten ist natürlich nach der gegenseitigen Abnutzung des eigenen Profils in diversen großen Koalitionen der Drang erkennbar, sich gegen den Koalitionspartner durchzusetzen. Das prägt ja auch das Erscheinungsbild von Schwarz-Rot. Allerdings ist die Verteidigungspolitik so ziemlich der letzte Bereich, der sich für Streit im Sandkasten eignet. Steckenpferde gehören in den Kindergarten. Das schien anschließend auch allen Beteiligten zu dämmern, die sich angefangen bei Pistorius mühten, die Wogen der Erregung zu glätten. Der CDU-Abgeordnete Jens Lehmann versuchte dem Ganzen noch etwas Positives abzugewinnen, indem er die nun angestoßene breite gesellschaftliche Debatte zum Wehrdienst begrüßte. Damit befand er sich allerdings auf dem Stand der SPD während der Koalitionsverhandlungen, als diese eine solche Debatte vor der Entscheidung über die Wehrform forderte.
Das weckte seinerzeit ungute Erinnerungen an die sozialdemokratische Verzögerungstaktik in der Diskussion über bewaffnete Drohnen. Der ehemalige Wehrbeauftragte Hans-Peter Bartels, der schon in dieser Frage seine SPD kritisierte, merkte zu den aktuellen Geschehnissen an, dass das keine Sternstunde gewesen sei. Von den übrigen Parteien im Bundestag sind auch keine lösungsorientierten Beiträge zu erwarten. Grüne und Linke lehnen eine Wehrpflicht grundsätzlich ab, Bedrohungslage hin oder her. Die AfD ist ein Miniaturabbild der uneinigen Koalition: Gerade hat der pro-russische Flügel die Forderung nach der Wehrpflicht im eigenen Grundsatzprogramm mit der Unterstellung eines Bundeswehreinsatzes im Ukrainekrieg torpediert. Was Parteichefin Alice Weidel zu der rhetorischen Brezel veranlasste, dass man nach wie vor für die Wehrpflicht sei – aber nur im Frieden und unter einer AfD-Regierung.
Das Parlament scheint Zeit zu haben und die Satire schreibt sich von selbst
Offenbar herrscht im Parlament weiterhin das Gefühl, alle Zeit der Welt zu haben. Gott bewahre dieses hohe Haus davor, dass es jemals über die Ausrufung des Spannungs- oder Verteidigungsfalles und die damit verbundene automatische Reaktivierung der Wehrpflicht entscheiden müsste. Und den Rest der Republik auch. Die Satire schreibt sich von selbst: CDU/CSU wären angesichts eines unmittelbar bevorstehenden russischen Angriffs auf NATO-Gebiet sicher dafür. Aber nur unter der Bedingung, dass auch China, Nordkorea und der Iran als Bedrohung im Text der Erklärung verankert würden, um diesen zukunftssicher zu machen. Die SPD würde dagegen zunächst einen Parteitag einberufen, um einen Beschluss herbeizuführen, den auch die Jusos mittragen können.
Die Grünen würden zwar die Bedrohung anerkennen, aber ihre Zustimmung aus prinzipiellen Gründen verweigern, solange der Verteidigungsfall nicht ausreichend inklusiv, geschlechtergerecht und klimaneutral gestaltet werden kann. Die Linke würde schon den provokativen Begriff der Verteidigung kritisieren, weil er impliziere, dass die NATO keine Mitschuld an der Eskalation trage. Die AfD schließlich würde zustimmen, aber erst nach dem Krieg unter eigener Regierung. Vermutlich, um die Bundeswehr nach Trumpschem Vorbild in deutschen Städten gegen Anti-Abschiebungs-Proteste, Müll in Grünanlagen und „die“ Antifa einzusetzen. Und dann, um einen alten Witz aus dem Kalten Krieg abzuwandeln, treffen sich irgendwann zwei russische Generale im eroberten Paris. Fragt der eine den anderen: „Wie haben sich eigentlich die Deutschen entschieden?“
Stefan Axel Boes



