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Rede der Bundesministerin der Verteidigung, Dr. Ursula von der Leyen, anläßlich der 51. Münchner Sicherheitskonferenz

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von der LeyenMünchen, 6. Februar 2015

Führung aus der Mitte

Herr Botschafter Ischinger,
Sie haben es wieder einmal geschafft, für die Sicherheitskonferenz ein eindrucksvolles Programm zusammenzustellen, das beides gleichermaßen leistet: Das wichtige Gespräch über die brisantesten aktuellen Krisen, wie auch das Nachdenken über strategische Entwicklungen und Ziele.

Sie haben in der Vorbereitung dieser Konferenz ein wirklich lesens- und nachdenkenswertes Papier herausgegeben: Den „Munich Security Report 2015“.

Gleich einer der ersten Artikel stellt die durchaus provokante Frage: „Is Germany ready to lead?“ Meine Antwort: Ja, wir sind bereit. Fragt man die deutsche Bevölkerung, ist die Antwort zurückhaltend. 62 Prozent der befragten Deutschen geben an, Deutschland solle sich nicht noch mehr in internationalen Krisen engagieren – nur 34 Prozent sprechen sich dafür aus. Aus der Perspektive des Auslands sieht dies schnell nach künstlicher „Selbstverzwergung“ aus. Nach einem Erwachsenen, der nicht wahrhaben will, dass der gewachsenen Kraft und Reife auch ein höheres Maß an Verantwortung entspricht. Ist das Gefühl der deutschen Bevölkerung deswegen aus der Zeit gefallen? Nein, auch weil die leidvolle deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts heute zur DNA unseres Volkes gehört. Die politisch-moralische Bankrotterklärung unseres Landes ist erst 70 Jahre her. Und sie wird uns mit ihrer Düsterkeit immer begleiten und eine Spur nachdenklicher machen. Das „think twice“ ist unsere Lehre aus unserer Geschichte.
Aber unsere moralische Verpflichtung ist es auch, mit aller Kraft für die Verteidigung der universellen Menschenrechte einzustehen. Gerade vor dem Hintergrund unserer Geschichte kann Gleichgültigkeit keine Option sein. So müssen wir bei uns in Deutschland unermüdlich erklären und begründen, dass das Einstehen für Einigkeit und Recht und Freiheit heute nicht mehr alleine eine nach innen gerichtete nationale Aufgabe ist. Und wir müssen erklären, dass der weltweite, anstrengende, oft schmerzhafte und auch harte Einsatz für Menschenrechte, Demokratie und Freiheit nicht nur den anderen überlassen werden kann, sondern genauso auch uns angeht. Das schreiben uns die unermesslichen Verbrechen von Ruanda und Srebrenica ebenso ins Stammbuch wie der versuchte Genozid an den Jesiden. „Gleichgültigkeit ist und bleibt keine Option“. Der Tenor der Münchner Sicherheitskonferenz im letzten Jahr war: Deutschland ist bereit, mehr Verantwortung zu übernehmen, sich einzubringen, zu handeln.
Was bedeutet das konkret? Mehr Verantwortung nur auf diplomatischem Parkett? Oder in der Entwicklungszusammenarbeit? Oder auch in harten militärischen Aktionen?
Wenn ich anfangs gesagt habe, Germany is ready to lead, dann ist die Kernfrage doch: Um welche Art von Führung geht es heute? Verstehen wir alle dasselbe unter dem Wort Führung? Ein Wort, das im Deutschen einen so anderen Klang hat als seine englische Übersetzung leadership? Verstehen wir unter Führung das Führen mit der Pickelhaube? Nein! Führen in der Form, dass Deutschland das Lenkrad an sich reißt und die Richtung vorgibt? Nein! Führung, indem Deutschland voranstürmt, weil es glaubt, Nummer eins unter Europäern sein zu müssen? Nein! Das alles entspricht nicht der politischen Kultur Deutschlands im 21. Jahrhundert.

Ich möchte sagen, zu welcher Art Führung Deutschland sehr wohl bereit ist: Es ist die Führung aus der Mitte. Dies ist der Anspruch, den unsere Partner an uns haben – und dies sollte auch unser eigener Anspruch an uns selbst sein. Führen aus der Mitte bedeutet, selbst das Beste an Ressourcen und Fähigkeiten in die Bündnisse und Partnerschaften einzubringen. Mehr als für andere gilt das für Deutschland. Wohl jeder hier im Saal kennt das Zitat des damaligen polnischen Außenministers und jetzigen Parlamentspräsidenten Radoslaw Sikorski, er fürchte sich weniger vor einem starken Deutschland als vor einem schwachen Deutschland. Viele Kommentatoren haben das als Wunsch oder gar Aufforderung interpretiert, Deutschland möge endlich wieder eine dominantere Rolle übernehmen. Aber wir verstehen darunter nicht Dominanz gegenüber unseren Nachbarn oder eine Politik über deren Köpfe hinweg. Im Gegenteil. Führen aus der Mitte, das geht nicht allein. Wir verstehen Führen aus der Mitte so, dass dadurch andere Partner mit weniger Ressourcen ihre unverzichtbaren Beiträge auf Augenhöhe einbringen können. Und in dieser Logik verzahnen wir unsere Fähigkeiten. Deswegen unterstellen sich Deutschland und die Niederlande gegenseitig Luftlandetruppen- und Panzereinheiten. Deswegen gibt es die Deutsch-Französische-Brigade. Und deswegen vertiefen wir mit Polen die Kooperation unserer Land- und Seestreitkräfte. Wir waren vor 70 Jahren Todfeinde! Heute verflechten wir unsere Streitkräfte und vertrauen uns in einem Maße, das seinesgleichen sucht.
Führen aus der Mitte – ja, das kann auch bedeuten, gemeinsam zu kämpfen. Aber es ist weit mehr als das. Es heißt auch, andere zu ertüchtigen, in ihrer Region selbst für Sicherheit zu sorgen. In dieser Logik haben wir im vergangenen Jahr gehandelt, von Mali über Afghanistan, den Libanon, Somalia bis zum Irak.
Führen aus der Mitte heißt: die unbedingte Bereitschaft, gemeinsam zu analysieren und gemeinsam zu entscheiden. Keine Nation allein – nicht mal die größte – hat die Mittel, Konflikte auf Dauer erfolgreich zu lösen. Auch wenn Entscheidungsfindungen in Partnerschaften zwischen gleichberechtigten Staaten oftmals nur recht mühsam und langsam erscheinen mögen – diese Entscheidungen beruhen auf einer breiteren Legitimationsbasis und sie erweisen sich im Nachhinein meist als klüger.

Außenminister Kerry hat vergangene Woche einen pointierten Namensartikel in einer deutschen Tageszeitung veröffentlicht. In ihm beschreibt er, dass angesichts der neuen Bedrohungen, die sich nicht mehr an Linien auf der Landkarte orientieren, Nachbarschaft überall sei. Und weiter, Zitat: „Wir haben eine Welt hinter uns gelassen, in der die Macht in Hierarchien beheimatet war. Nun begeben wir uns in eine Welt, wo Macht in Netzwerken liegt.“
Derzeit erleben wir Herausforderungen, die so vielschichtig sind, dass es sogar gleich mehrerer Bündnisse oder ganz neuer Partnerschaften bedarf, um sie in den Griff zu bekommen. Siehe die Russland-Ukraine-Krise: Sie fordert NATO und EU und OSZE. Alle drei Organisationen können ihren spezifischen Mehrwert unter Beweis stellen. Die NATO, weil das Vorgehen des Kreml das gesamte Bündnis bedroht und gerade die östlichen Mitglieder Sicherheit brauchen. Und die OSZE, weil sie wie keine andere Organisation geeignet ist, in diesem hybrid geführten Konflikt Transparenz zu schaffen, für Objektivität zu sorgen und Gesprächsräume offen zu halten. Die EU, weil wirtschaftlicher Druck notwendig ist, wo es keine militärische Lösung geben darf.
Dabei müssen wir Europäer eines beachten: Wir haben uns in Europa zusammengetan, weil uns eine gemeinsame Wertebasis verbindet. Diese Wertebasis haben wir in sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Krisenjahren unter großen Anstrengungen verteidigt. Über Details können wir streiten. Aber über unsere Einigkeit und unseren Zusammenhalt sollten keine Zweifel bestehen und keiner sollte sie leichtfertig aufs Spiel setzen.
In allen drei Organisationen hat sich Deutschland früh und angemessen engagiert. Deutschland ist nicht nur Rahmennation und Starthelfer der neuen NATO-Speerspitze, wir bauen das Multinationale Korps Nordost mit auf ebenso wie die Stützpunkte, die die NATO in ihren östlichen und südlichen Mitgliedstaaten einrichtet. Der Beitrag der Bundeswehr bei der Umsetzung der NATO-Beschlüsse von Wales ist damit ebenso wenig wegzudenken wie das unermüdliche Engagement der Bundesregierung, die Rolle der OSZE zu stärken und für eine geschlossene Haltung der EU gegenüber Russland zu sorgen. Damit steht Deutschland in der Mitte der transatlantischen und europäischen Politik.

Schauen wir in die südliche Peripherie Europas, so sehen wir eine Allianz von knapp 60 Staaten gegen den Terror der ISIS; Staaten unterschiedlichster Couleur, die der gemeinsame Wille eint, die fürchterliche Barbarei zu stoppen; arabische Staaten der Region, muslimische Staaten und westliche Staaten aus der ganzen Welt. Der Westen verfügt zweifellos über enorme politische, wirtschaftliche und militärische Möglichkeiten. Aber der ideologisch aufgeladenen ISIS die pseudoreligiöse Maske vom Gesicht zu reißen, das kann nur in der breiten Allianz mit den muslimischen Staaten gelingen, die diese Auseinandersetzung zu ihrer eigenen machen. Auch hier hat Deutschland früh sein Gewicht in die Mitte der Waagschale geworfen – nicht nur zugunsten eines breiten politischen Lösungsansatzes. Unser Land hat nach einer sehr kontroversen innenpolitischen Diskussion auch Tabus aufgelöst. Wir haben neben humanitärer Hilfe auch Waffen und Munition an die Peschmerga geliefert. Und letzte Woche hat der Deutsche Bundestag beschlossen, Truppen für eine Ausbildungsmission in den Nordirak zu schicken.

Denken Sie auch an die vielen Staaten, die im Kampf gegen die Ebola-Epidemie zusammengefunden haben. Wer hätte vor einem Jahr gedacht, dass in Monrovia Helfer u.a. aus Kuba, China, den USA und Europa Zelt an Zelt gemeinsam die Epidemie bekämpfen? Auch hier war Deutschland schnell zur Stelle. Innerhalb weniger Tage haben wir eine Luftbrücke in Westafrika aufgebaut, in der die deutsche Luftwaffe bis zum heutigen Tag in rund 150 Flügen 560 Tonnen Hilfsgüter in die Ebola-Gebiete befördert hat.

Bereitschaft zu Führen aus der Mitte heißt, dass beides zusammenkommen muss: Handlungswille und Handlungsfähigkeit. Deshalb haben wir mit dem Irak-Mandat für unsere Soldaten gezeigt, dass es in unserem deutschen Recht den Raum gibt zu handeln, wenn es humanitär und sicherheitspolitisch geboten ist. Und deshalb arbeiten wir mit Hochdruck daran, die Rüstung und das Material der Bundeswehr in einen Zustand zu bringen, der uns nachhaltig partner- und bündnisfähig erhält.

Führen aus der Mitte bedeutet schließlich auch, sich engagiert der wesentlichsten Zukunftsfragen der Sicherheitspolitik anzunehmen. Das betrifft die hybride Kriegsführung und ihre digitale Dimension: Sei es das verdeckte Einschleusen von Geheimdienst, Militär und Waffen, das Anheizen regionaler oder ethnischer Spannungen, die politische Destabilisierung, die ökonomische Strangulierung, die massive Informationskampagne zur Desavouierung der bestehenden Ordnung, die Nutzung sozialer Medien zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung oder Angriffe auf IT-Strukturen. Das fundamental Neue ist die Kombination und die Orchestrierung dieses unerklärten Krieges, bei dem erst die Gesamtbetrachtung der einzelnen Mosaikstücke den aggressiven Charakter des Plans entlarvt. Und das sage ich auch mit Blick auf die aktuelle Debatte über die Ukraine. Eine Konzentration auf Waffen allein könnte ein Brandbeschleuniger sein und uns von einer gewünschten Lösung eher entfernen. Die Bevölkerung leidet bitter. In der Ukraine sind schon viel zu viele Waffen. Der Nachschub für die Separatisten ist potenziell unbegrenzt. Moskau hat unzweifelhaft eingegriffen. Daraus erwächst Verantwortung. Es muss möglich sein, einen Interessenausgleich innerhalb der Ukraine zu finden, der beides garantiert: staatliche Integrität und das passende Maß an Autonomie.
Es sind die unkonventionellen und vielfältigen Mittel des hybriden Krieges, die unkonventionell und vielfältig bekämpft werden müssen. Wir müssen das zerstörerische Narrativ entlarven. Sei es der Allmachtswahn der ISIS oder seien es die pseudohistorischen Angriffe auf die Integrität der Ukraine. Auch wenn die Mittel neu sind, es geht auch hier darum, worum es in vielen Kriegen immer gegangen ist: Es geht um das Verschieben von Grenzen, den Bruch des Völkerrechts und die massive Verletzung der Menschenrechte. Diese Mechanismen und Muster müssen wir offenlegen. Aber wie? Wir haben dazu die Möglichkeit. Denn letztlich ist das, was als unsere Schwäche verhöhnt wird, unsere größte Stärke: der Zweifel, der Widerspruchsgeist und die Kritik. Daraus erwachsen die freie Meinungsbildung, die freie Presse, Toleranz und Pluralität. Das macht eine Gesellschaft widerstandsfähig gegen Desinformation und Propaganda.

Henry Kissinger hat in einer Diskussion mit mir im Sommer des vergangenen Jahres gesagt, Deutschland sei geradezu verdammt dazu, eine immer wichtigere Rolle zu spielen. Ja, das stimmt. Mit dem richtigen Maß. Mit Mut zum Handeln, aber auch mit Demut im Handeln. So wie es unseren Sicherheitsinteressen, unserer humanitären Pflicht und unserer historischen Verantwortung entspricht.

Quelle: BMVg Presse- und Informationsstab 1

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