Gesamtstaatliche Resilienz: Staatliches Handeln in Krisensituationen und Katastrophenfällen verbessern
Möglichkeiten der Verbesserung staatlichen Handelns in Krisensituationen und Katastrophenfällen standen im Mittelpunkt einer Veranstaltung der Studiengesellschaft der Deutschen Gesellschaft für Wehrtechnik, an der 120 Experten kürzlich im Bonner Maritim Hotel teilnahmen. „Konflikte werden gesamtgesellschaftlich, systemisch, urban und digital geführt“, erklärte Brigadegeneral Christian Leitges, Unterabteilungsleiter Planung I im BMVg. Die Notwendigkeit einer Gesamtverteidigung sei außerhalb des Fachpublikums kaum geläufig. Die sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen haben sich grundlegend gewandelt. Die Einsatzumgebung der Zukunft ist durch neue Akteure, neue technologische, klimatische und organisatorische Merkmale gekennzeichnet. Der Cyber-Informationsraum hat an großer Bedeutung gewonnen, die Trennlinie zwischen Heimat und Gefechtszone, Kombattanten und Nichtkombattanten, die Trennung zivil zu militärisch aufgehoben. Die Verteidigungsplanung und ihre Umsetzung werden durch die NATO regelmäßig überprüft. Die Rahmenrichtlinien für die Gesamtverteidigung als Klammer zwischen der Konzeption der Bundeswehr und der Konzeption Zivile Verteidigung müssen angepasst werden, insbesondere die genaue Zuordnung der Zuständigkeiten. „Konzeptionell sind wir in Deutschland gut aufgestellt. Wir müssen es nur in die Umsetzung bringen“, betonte Leitges.
BrigGen Christian Leitges (Alle militärischen Vortragenden trugen Zivil, um den informellen Austausch „out of the box“ zu fördern.) (Foto © Lindhorst)
Amtshilfe der Bundeswehr
„Die Truppe hat Krisentauglichkeit bewiesen!“ So lautete das Fazit von Generalleutnant Martin Schelleis, Inspekteur der Streitkräftebasis und Nationaler Territorialer Befehlshaber. In seinem Vortrag führte er mit Erläuterungen zu Rechtsgrundlagen und Organisation der Amtshilfe ein und präsentierte eine beeindruckende Leistungsbilanz (siehe Seite 16). Die Bundeswehr habe nicht nur durch querschnittliche Unterstützungsleistungen, sondern zusätzlich mit speziellen militärischen Fähigkeiten wie Drohnen, Hubschraubern sowie Aufklärungsflugzeugen geholfen. Auch Brückenlegepanzer, Pionier- und Bergepanzer sowie Faltstraßen kamen zum Einsatz.
GenLt Martin Schelleis (Foto © Lindhorst)
Die Truppe habe sich sehr viel Respekt und Anerkennung erworben, das Verhältnis militärkritischer Gruppen zu den Streitkräften sich entspannt. Allerdings hätten sich klar die Defizite in der zu dünnen territorialen Führungsstruktur aufgetan. Die Berater auf Orts- und Kreisebene sind Reservisten und somit nicht durchgehend verfügbar. Durch die langzeitige Bindung der Truppe sind erhebliche Ausbildungs- und Übungsdefizite entstanden. Insgesamt bezifferte Schelleis dies auf 17 Millionen Arbeitsstunden. Zur Stärkung der Gesamtverteidigung müssten zivile personelle und materielle Reserven geschaffen werden. „Wir haben kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem!“
Grafik © Kdo SKB
Flüchtlinge Über die gesamtstaatliche Herausforderung einer großen Zahl von Flüchtlingen sprach Ulrich Weinbrenner, Abteilungsleiter im Bundesinnenministerium. Er erinnerte an die Lage 2015/16, als mehr als 10.000 Menschen pro Tag einreisten und es große Probleme bei Registrierung und Versorgung gab. 2015 seien 476.000 Asylanträge gestellt worden, 2016 gar 745.000. Danach ging es auf rund 200.000 zurück. Die Bearbeitung dauerte teilweise Jahre. Daraus habe man eine Vielzahl von Lehren gezogen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sei deutlich personell verstärkt, rechtliche Rahmenbedingungen geändert und der Krisenstab im BMI ertüchtigt worden. Derzeit sei die humanitäre Lage in Afghanistan katastrophal. Eine zunehmende Verelendung werde zu weiterem Migrationsdruck führen. „Wir wollen den Menschen eine Perspektive in der Heimatregion oder Transitländern verschaffen“, erklärte Weinbrenner.
Aufbau statt Wiederaufbau
Albrecht Broemme, Vorstandsvorsitzender Zentrum Öffentliche Sicherheit und Ehrenpräsident des THW, beklagte eine „Pandemie-Demenz“. An der Ahr hatte es schon mehrere Hochwasser gegeben, das letzte im Jahr 1910. Ein Plan für Wasserrückhaltebecken sei seinerzeit aufgestellt worden, die Finanzierung gesichert gewesen. Dann aber habe die Landesregierung mit dem Geld lieber den Nürburgring aufgebaut. Er kritisierte die Fehlinformationen in der kritischen Lage, ein zutreffendes aktuelles Lagebild habe es nicht gegeben. Nun müsse man auch anders bauen als früher: „Aufbau“ statt „Wiederaufbau“ und nicht die Fehler der Vergangenheit wiederholen.
Hybride Angriffe
„Deutschland ist ein wunderbares Ziel, weil ein föderales System von Natur aus viele Schnittstellen bietet“, beschrieb Armin Schuster, Präsident des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, die am meisten verwundbaren Punkte. Auf diese Schnittstellen zielten hybride Angriffe nicht nur im Cyberraum, auch durch Desinformation, Sabotage und Spionage. Bei Cyber sei Deutschland – trotz einiger spektakulärer Hacks wie des Bundestages 2015 – inzwischen gut aufgestellt. Täglich liefen Desinformationskampagnen. Als Beispiel nannte er gezielte Falschinformationen durch deutschsprachige Nachrichtenkanäle zur Corona-Pandemie, um das Vertrauen in den Rechtsstaat, die öffentliche Verwaltung und die unabhängigen Medien zu schädigen. „Staatliches Handeln gegen Desinformation ist auf rechtsstaatlich schwierigem Terrain, weil das Recht auf Meinungsfreiheit ein hohes Gut ist.“
Mangelhafte Nutzung von Daten
„Wir müssen uns auf die Gleichzeitigkeit von sechs bis acht Krisen einstellen.“ Zu „Situational Awareness – der Krise einen Schritt voraus“ informierte Oberst a.D. Ralph Thiele, Präsident EuroDefense Deutschland e.V. Die größten „Datenkraken“ der Welt sind Amazon und Alibaba, sagte er. Digitalisierung sei der Preis für Prosperität und Sicherheit, aber man müsse mit Daten professionell umgehen. Die mangelhafte Nutzung prinzipiell verfügbarer Daten sei die Achillesferse in Krisenmanagement und Katstrophenschutz. „Wir haben die Werkzeuge, setzen sie aber nicht ein“, kritisierte Thiele.
MdB Roderich Kiesewetter (Foto © Lindhorst)
Vier Dimensionen von Sicherheit
Wir sind Zeitzeugen eines extremen Umbruchs und derzeit in einer Art „Reallabor“, um die Instrumente zu schärfen und zu verbessern, erläuterte Roderich Kiesewetter MdB, Sprecher für Krisenprävention der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. „Fragen der Resilienz erleben wir tagtäglich, sind uns dessen aber nicht bewusst.“ Kiesewetter benannte vier Dimensionen der Sicherheit. Innenpolitisch werde stark auf die Bundeswehr zurückgegriffen, weil die Länder zu wenig Vorsorge geleistet haben. Er schlug vor, den zivilen Freiwilligendienst deutlich über die 180.000 derzeitigen Stellen auszuweiten. In der äußeren Sicherheit würden Bündnisse erodieren. Die Bereitschaft zur Erfüllung des Zwei-Prozent-Zieles in der NATO schwinde. Ein westliches Gegenkonzept zur Konzentration Chinas auf Afrika sei nicht existent. Wettbewerbsfähigkeit für wirtschaftliche Sicherheit sei nur gegeben, wenn die innere Sicherheit stimme und freie Handelswege ungefährdet seien. Bei der sozialen Sicherheit komme es auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt an. Sichere Renten und bezahlbare Löhne müssten auch angesichts des demografischen Wandels abgesichert sein. „Wir haben notwendige Reformen bei der Digitalisierung verschlafen“, sagte Kiesewetter. Beim Thema Einwanderung sollte man nicht in Abhaltung denken. Deutschland müsse gezielt mehr qualifizierte Fachkräfte anwerben, möglichst 400.000 pro Jahr. Kiesewetter forderte die Etablierung eines „Chief Risk Officer“ im Kanzleramt. Lieferketten müssten nach Europa zurückgeholt, die Wirtschaft robuster gestaltet werden. Die strategische Kommunikation sei in Richtung auf eigene Bevölkerung und Gegner zu schärfen. Zum Schluss noch eine Warnung: In Folge der Taxonomie des Green Deals drohe der deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie der Ausverkauf an ausländische Investoren. (liho)