Mit der Operation „Spinnennetz“ ist dem ukrainischen Geheimdienst SBU am vergangenen Sonntag ein schwerer Schlag gegen die strategische Bomberflotte Russlands gelungen. Zwar wurden wohl nicht die behaupteten mehr als 40 Flugzeuge getroffen. Die unabhängige Auswertung der veröffentlichten Drohnenbilder sowie kommerzieller Satellitenaufnahmen ergab bislang elf zerstörte und drei beschädigte Bomber der Typen Tupolew Tu-22M und Tu-95 sowie ein Transportflugzeug Antonow An-12. Je zwei weitere Tu-22 und Radar-Frühwarnflugzeuge Berijew A-50 gelten als möglicherweise getroffen, aber bereits zuvor nicht einsatzfähig. Auch wenn die physischen Auswirkungen hinter den ukrainischen Angaben zurückbleiben, ist der Verlust an Flugzeugen – und hier speziell der A-50, von denen bereits zwei im laufenden Krieg verloren gegangen sind – aber für Russland schmerzhaft. Nicht zuletzt in politischer und psychologischer Hinsicht.
Während offizielle russische Stellen und Medien zunächst lieber über die Angelegenheit schwiegen, zeigte sich das besonders an der Reaktion pro-russischer Propagandaquellen in Ost und West. In gewohnter Täter-Opfer-Umkehr bedienten sie die mittlerweile leicht abgenutzte Angst vor einer nuklearen Eskalation, die Russland von Anfang an genutzt hat, um Unterstützer der Ukraine abzuschrecken. Der Tenor: mit dem Angriff auf atomwaffenfähige Bomber als Teil der nuklearen Triade Russlands riskiere die ukrainische Regierung mal wieder den Dritten Weltkrieg, statt verantwortungsvollerweise endlich zu kapitulieren. Ähnliches war schon im vergangenen Jahr bei den Schlägen gegen Raketen-Frühwarnradars in Südrussland zu hören. Oder bei der ukrainischen Offensive gegen russisches Territorium bei Kursk. Oder der großflächigen Rückgewinnung besetzter Gebiete im ersten Kriegsjahr. Oder, oder, oder.
Im Spinnennetz der Suggestion
Im aktuellen Fall raunten die üblichen Verdächtigen zusätzlich von Auswirkungen auf strategische Rüstungskontrollregime, da diese zu Verifizierungszwecken das Abstellen von Bombern im Freien vorschrieben. Die Suggestion schwerwiegender Folgen ließ sich gut in der bedeutungsschwangeren Frage zusammenfassen: „Was soll Russland denn tun, wenn sein luftgestütztes nukleares Abschreckungspotenzial angegriffen wird?“ Worauf die offensichtliche Antwort allerdings lautet: „Aufhören, damit Marschflugkörper auf sein Nachbarland abzufeuern, das es in der Erwartung einer leichten Eroberung angegriffen hat, sich aber unverschämterweise drei Jahre später immer noch wehrt.“ Für die Ukraine ist die russische Bomberflotte eben zunächst ein Mittel des Gegners für konventionelle Angriffe. Und nach wie vor gilt: würde sich Russland aus der Ukraine zurückziehen, wäre der Krieg morgen zu Ende.
Selbst der ernsthafte Wille zu Waffenstillstandsverhandlungen würde den Konflikt umgehend entlang der aktuellen Kontaktlinie einfrieren. Angesichts der fortbestehenden Forderungen nach Umsetzung der erklärten russischen Kriegsziele noch vor einem Waffenstillstand – Abzug der Ukraine aus allen offiziell von Russland annektierten, aber nicht vollständig kontrollierten Gebiete, keine weitere Rekrutierung oder Waffenlieferungen, Verzicht auf NATO-Mitgliedschaft, Neuwahlen und diverse Gesetzesänderungen – ist dieser aber nicht erkennbar. Die zweite direkte Gesprächsrunde beider Seiten fand übrigens am Montag trotz der ukrainischen Operation vom Vortag wie geplant statt. Auch wenn sie nur in der Vereinbarung eines weiteren Gefangenen- und Gefallenenaustauschs mündete: einen sofortigen Nuklearkrieg schien keine Seite zu erwarten.

Was macht eigentlich Oreschnik?
Natürlich folgten auf die Warnungen der erwähnten üblichen Verdächtigen schnell die Fantasien über einen diesmal aber wirklich spektakulären russischen Gegenschlag auf die Ukraine. Bei dieser Gelegenheit wurde auch die zur unaufhaltbaren Wunderwaffe hochstylisierte Mittelstreckenrakete Oreschnik wieder herausgekramt. Allerdings hat man seit deren ersten Demonstration gegen die Stadt Dnipro im letzten November außer Berichten über mehr oder weniger erfolgreiche Testflüge nicht viel von ihr gehört. Ob sie tatsächlich wie seinerzeit von Wladimir Putin angekündigt noch dieses Jahr regulär in Dienst geht, ist weiter offen. Was im Übrigen auch für potenzielle andere Zielländer wie Deutschland eine gute Nachricht ist: die Einführung des israelischen Raketenabwehrsystems Arrow 3 liegt jedenfalls im Plan, nachdem letzten Monat die ersten Komponenten offiziell von der Luftwaffe übernommen wurden.
Der wirkliche russische Gegenschlag erwies sich dann als mehr vom Üblichen in Form eines massiven Drohnen- und Raketenangriffs auf Kiew, wie Russland selbst bestätigte. Auch russische Militärblogger kommentierten, man solle doch aufhören, in einem langdauernden Krieg von „Vergeltungsschlägen“ zu sprechen, sondern von Strategien reden. Da lässt sich auch unterschwellige Kritik hinein interpretieren, dass dieser Krieg offiziell immer noch als „militärische Spezialoperation“ bezeichnet wird. Zwar erklärte Russland nach der ukrainischen Offensive, die auch zwei Anschläge auf Bahn- und Straßenbrücken im grenznahen Russland sowie einen Unterwasserangriff auf die Krim-Brücke in der Straße von Kertsch umfasste: nunmehr sei klar, dass in Kiew Terroristen säßen, mit denen man nicht verhandle. Doch auch das wurde durch die Fortsetzung der Gespräche in Istanbul ad absurdum geführt.
Nukleare Drohungen könnten das kleinere Problem werden
Die Ukraine wiederum erklärte, man habe den Umfang des Gegenschlages bereits durch präventive Schläge gegen das gegnerische Offensivpotenzial verringert. Angesichts des zunehmenden Mangels an Flugabwehr-Lenkwaffen scheinen die ukrainischen Streitkräfte zunehmend auf das Prinzip „schieß auf den Bogenschützen, nicht auf den Pfeil“ zu setzen. Nichts anderes stellte auch die Operation „Spinnennetz“ dar. Da Russland im Abnutzungskrieg am Boden nach wie vor die Oberhand hat, wird offenbar auch darüber hinaus eine Ausweitung strategischer Angriffe erwogen. Wie die Washington Post berichtet, könnte selbst die russische Pazifikflotte zum Ziel werden.. Wie die Washington Post berichtet, könnte selbst die russische Pazifikflotte zum Ziel werden.
Außer Reichweite ist diese nicht: bereits bei „Spinnennetz“ scheiterte ein Angriff auf den Stützpunkt Ukrainka im Oblast Amur (russischer Ferner Osten) nur daran, dass das Transportfahrzeug vermutlich bei der pyrotechnischen Absprengung des Dachs zur Freisetzung der Drohnen explodierte. Und dieser Umstand sollte vielleicht der eigentliche Grund zu einer Warnung vor der weiteren Entwicklung sein. Denn die Entgrenzung eines Konflikts von den Reichweiten konventioneller Waffensysteme, die die Ukraine hier mit relativ einfachen Mitteln demonstriert, wird ja nicht auf diesen Krieg oder eine Seite darin beschränkt bleiben. Im Rahmen seiner nach allen Anzeichen bereits laufenden klandestinen Kriegführung gegen den Westen könnte Russland ebenso Gebrauch davon machen. Und künftig jede halbwegs versierte Terrorgruppe. Dann werden nukleare Drohungen vielleicht das kleinere Problem.
Stefan Axel Boes