Die Aufregung über die kurzzeitige Unterbrechung der amerikanischen Unterstützung für die Ukraine produzierte einen neuen Modebegriff: den „kill switch“, mit dem die USA angeblich von ihnen gelieferte Waffensysteme aus der Ferne ausschalten könnten, wenn sie deren Einsatz nicht wünschen. Grund waren vor allem entsprechende Berichte über die ATACMS-Präzisionsrakete. Deren Einsatz gegen Ziele auf russischem Territorium durch die Ukraine war ohnehin erst nach langem Zögern von der damaligen US-Regierung unter Joe Biden zugelassen worden. Als die Trump-Administration nach dem desaströsen Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im Weißen Haus die Waffenhilfe einstellte, um letzteren auf Linie mit den amerikanischen Vorstellungen zu Verhandlungen über ein Ende des russischen Angriffskrieges zu bringen, löste das auch unter NATO-Verbündeten größte Sorge aus.
Denn auch sie sind in vielen Bereichen von US-Rüstungstechnik abhängig. Sollte die bündnispolitisch gerade ziemlich freidrehende Regierung Trump sich nicht nur ganz oder teilweise aus der NATO zurückziehen, sondern auch nach Belieben amerikanische Waffensysteme ihrer Mitglieder neutralisieren können, weil es ihr gerade in den Kram passt, wäre quasi keine stabile Verteidigungsplanung mehr möglich. Besonderes Augenmerk richtete sich dabei auf das Kampfflugzeug F-35, das von mehreren Bündnispartnern beschafft wird. Auch in Deutschland soll es künftig Trägerplattform für amerikanische Nuklearwaffen im Rahmen der nuklearen Teilhabe werden. Wie andere hochgradig digitalisierte Systeme ist dieses extrem softwareabhängig und erfordert regelmäßige Updates. Die Idee, dass es auf diesem Wege auch „ausgeschaltet“ werden kann, ist also zumindest nicht völlig abwegig.
„Kill Switch“-Gerüchte gibt es nicht erst seit der F-35
Ähnliche Gerüchte gab es allerdings bereits über die F-16, die für ihre Zeit ebenfalls stark digitalisiert war. Es wäre jedoch nicht bekannt, dass diese jemals plötzliche Fehlfunktionen aufgewiesen hätten, wenn Verbündete von Israel bis Pakistan sie entgegen den Vorstellungen amerikanischer Politik hätten einsetzen wollen. Verteidiger der F-35 weisen auch darauf hin, dass es sich bei dieser um ein multinationales Kooperationsprojekt handelt, bei dem gewisse Teile gar nicht in den USA produziert werden. Die implizite Argumentation: auch letztere sind so von den Verbündeten abhängig und können diese nicht ohne Konsequenzen ausschließen. Angesichts der Folgen, die schon das kurze Ukraine-Embargo jetzt für die US-Rüstungsindustrie hat, wäre zudem ein tatsächliches „Abschalten“ der Flugzeuge von Verbündeten praktisch der Todesstoß für deren gesamtes Exportgeschäft.

Sicherlich haben Kunden wie Portugal und Kanada, die nun Bestellungen canceln oder zumindest laut darüber nachdenken, auch andere Gründe. Angesichts der Beschaffungskosten nicht zuletzt finanzielle – und Kanada befindet sich im Wahlkampf, der wesentlich von den kürzlichen Beleidigungen und wirtschaftlichen Angriffen aus Washington gespeist wird. Die amerikanische Kontrolle über die Software der F-35 ist aber kein neuer Streitpunkt. Großbritannien, eigentlich Mitentwickler des Flugzeugs, musste sich erst mit Nachdruck für eine vollständig souveräne Lösung bei Wartung und Betrieb einsetzen, bis 2006 ein entsprechendes Abkommen geschlossen wurde. Auch danach gab es weiterhin britische Klagen über die schleppende Integration nicht-amerikanischer Systeme wie der Luft-Luft-Lenkwaffe Meteor durch den Hersteller Lockheed Martin. Erst Anfang dieses Monats fanden die ersten Tragetests mit dieser statt.
Die Chancen der koscheren Extrawurst für die Kartoffeln
Für zusätzliches böses Blut sorgte, dass Israel die übliche Extrawurst in Form eines instrumentierten Testflugzeugs erhielt, um als einziger Kunde eigene Systeme integrieren zu können. Allerdings zeigt sich darin zumindest für Deutschland auch ein möglicher Weg, amerikanische Technologie ungeachtet der Tagespolitik in Washington sicher weiter zu betreiben. Denn die deutsch-israelische Kooperation im Rüstungsbereich ist ebenfalls eng und umfasst sensible Bereiche wie – möglicherweise atomwaffenfähige – U-Boote für Israel und das – mit US-Unterstützung entwickelte – Raketenabwehrsystem Arrow 3 für Deutschland. Zwar haben wie bei Arrow 3 auch immer die USA mitzureden, wenn es um die Weitergabe amerikanischer Technologieanteile geht. Solange Deutschland seinerseits die Sicherheitsvorgaben für die Nutzung erfüllt, kann es aber getrost der israelischen Seite überlassen, die Sache mit Washington klar zu ziehen.
Dennoch hinterlässt das schwindende Vertrauen in die transatlantische Partnerschaft diesbezüglich Unbehagen. Deutschland wird die F-35 wohl schon deshalb beschaffen, weil bereits größere Summen in den Aufbau der entsprechenden Infrastruktur geflossen sind. Die Planungen für die Einführung ab 2026/27 stehen. Auch Gründe der Interoperabilität mit den anderen Betreibern in der NATO und der schlichte Fähigkeitsumfang sprechen dafür. Zwar scheint mittlerweile sogar zweifelhaft, wie lange die nukleare Teilhabe in ihrer jetzigen Form mit den USA als Hauptgrund für die Beschaffung noch existieren wird. Aber bis hoffentlich ab 2040 die europäischen Projekte für Kampfflugzeuge der 6. Generation wie das deutsch-französisch-spanische FCAS, das britisch-italienisch-japanische GCAP und vielleicht das schwedische KFS Gestalt annehmen, gibt es bei den Fähigkeiten keine Alternative.

Von Tomahawks und Patriots
Beim reinen Umfang verfügbarer Kampfflugzeuge weist Europa kein Defizit auf. Kritisch sind vor allem die Fähigkeiten für Langstrecken-Präzisionsschläge, deren Bedeutung sich im Ukraine-Krieg erneut unter Beweis gestellt hat. Hier sind neben bemannten Mitteln auch weitreichende Präzisionsflugkörper erforderlich. Dazu existiert bereits die multinationale Initiative, mit der Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Polen und Schweden in den nächsten vier bis sechs Jahren einen eigenen Flugkörper für „deep precision strikes“ entwickeln wollen. Wie die Flugzeugprojekte der 6. Generation erhält dieses Vorhaben durch den möglichen Rückzug der USA, die diese Fähigkeitslücke in der Zwischenzeit durch die „episodische“ Stationierung des Lenkwaffensystems Typhon abdecken wollten, zusätzliche Dringlichkeit. Angebliche Überlegungen in Deutschland, als Zwischenlösung den US-Marschflugkörper Tomahawk zu beschaffen, scheinen nun nicht mehr recht zielführend.
Auf der Kehrseite herrscht an fliegenden Luftverteidigungssystemen kein Mangel, an bodengebundenen umso mehr. Bereits letztes Jahr erhöhte die NATO Berichten zufolge die „minimum capability requirements“ für ihre Mitglieder hier von insgesamt 293 auf satte 1.467 Einheiten. Das neue Unbehagen konzentriert sich in diesem Bereich auf das amerikanische System Patriot, das das Rückgrat der bodengebundenen Luftverteidigung im Bündnis bildet. Zumindest physisch verringert sich dabei die Abhängigkeit von den USA gerade entscheidend. Ab 2027 werden die Bundeswehr und andere europäische Streitkräfte ihre Patriot-Flugkörper der Version GEM-T von einer neu entstehenden Produktionslinie erhalten, die MBDA derzeit in Kooperation mit den Herstellern Lockheed Martin und Raytheon im bayerischen Schrobenhausen aufbaut. Dabei wird auch der Antrieb in Deutschland hergestellt, weitere Komponenten von anderen europäischen Partnern.
Die Konkurrenz im eigenen Haus schläft nicht
Wie bei einer bereits existierenden Produktionslinie in Japan dürfte ein möglicher Engpass allerdings die Zulieferung des Suchkopfs aus den USA bleiben. Die Sorge betrifft hier also nicht nur das mögliche Versagen von Software-Updates, sondern die Verfügbarkeit von Hardware für einen durchhaltefähigen Einsatz. Ähnliches gilt im Übrigen auch für die Ersatzteilversorgung der F-35, die einem amerikanisch kontrollierten softwaregesteuerten Just-in-time-System unterliegt. Dort gibt es allerdings wie erwähnt durchaus gegenseitige Abhängigkeiten in der Produktion. Bei Patriot sollte durch die Einbeziehung ausländischer Partner dagegen der Ausstoß durch Diversifikation der Produktionsbasis von Komponenten insgesamt erhöht werden. Die gute Nachricht: an Alternativen besteht im Bereich der bodengebundenen Flugabwehr perspektivisch kein Mangel.

MBDA selbst stellt außerhalb seiner deutschen Unternehmung die französisch-italienische Lenkwaffe Aster/Mamba her, die auch von der britischen Marine verwendet wird. Die Version Block 1 entspricht in ihren Fähigkeiten etwa der Patriot PAC-2. Block 1NT, der planmäßig Ende dieses Jahres eingeführt werden soll, wird mit der Möglichkeit zum Einsatz gegen ballistische Flugkörper bis 1.500 Kilometer Reichweite demnach das Äquivalent zu PAC-3. Noch in der Entwicklung befindet sich Block 2 BMD gegen Flugkörper bis 3.000 Kilometer Reichweite, was etwa der israelischen Arrow 2 entspricht. Derzeit steht das landgestützte System SAMP/T in Dänemark in der Endauswahl gegen Patriot. Es wäre den Dänen nicht zu verdenken, wenn sie sich allein wegen der amerikanischen Forderungen nach der Überlassung Grönlands für das europäische Produkt entscheiden würden.
Sicherheit ist mehr als die Abwesenheit von „Kill Switches“
In der Kategorie kurze bis mittlere Reichweite stehen gleich vier Systeme im dänischen Wettbewerb, darunter die deutsche IRIS-T SLM. Diese kommt als schnelle einheimische Lösung künftig auf den deutschen Fregatten vom Typ 125 auch im Marinebereich zum Einsatz, wo in der NATO sonst die amerikanische Evolved Sea Sparrow Missile (ESSM) vorherrscht. Nicht nur ist die Auswahl in dieser Kategorie umfangreich, Weiterentwicklungen dringen zunehmend in den unteren Entfernungsbereich von Langstreckensystemen vor. So arbeitet Diehl nach der in der Ukraine bewährten IRIS-T SLM mit 40 Kilometer Reichweite mittlerweile an der Version SLX, die letztere verdoppeln soll. Die Entsprechung bei MBDA ist die CAMM-Familie, wie IRIS-T aus einer Luft-Luft-Lenkwaffe für den Nahbereich entwickelt.
Inzwischen ist die Version CAMM-ER mit 45, künftig CAMM-MR mit 100 Kilometern Reichweite verfügbar. Aus Israel kommt die ähnliche Barak-8, die von Griechenland, den Niederlanden und der Slowakei in Land- und See-Anwendungen beschafft wird. Deren künftige ER-Variante soll sogar 150 Kilometer erreichen und läge damit voll im Bereich von Patriot und Aster/Mamba. Wenn Europa bei der bodengebundenen Flugabwehr erheblichen Aufholbedarf hat, bedeutet das zugleich eine erhebliche Chance, die Lücke mit Systemen aus eigener Produktion oder in Kooperation mit Drittpartnern zu schließen. Dabei spielen Sorgen um direkte Eingriffsmöglichkeiten der USA in die eigene Verteidigung letztlich nur noch eine Nebenrolle. Entscheidend ist am Ende der Aufbau von Entwicklungs- und Produktionskapazitäten, um auch langfristig die Unabhängigkeit dieser Verteidigung zu sichern.
Stefan Axel Boes