Persönlicher Rückblick: Kurz vor der Kommandoübergabe hatte Generalleutnant Jürgen Knappe (re.), Befehlshaber des Multinationalen Kommando Operative Führung und Commander des Joint Support and Enabling Command, noch Zeit für ein Gespräch mit dem Hardthöhenkurier.
Sehr geehrter Herr General, zweimal Befehlshaber, zwei ganz unterschiedliche Aufgaben, zwei Führungsphilosophien: Wie haben Sie die Unterschiede zwischen NATO und EU wahrgenommen?
Ich übernahm 2018 das Multinationale Kommando Operative Führung (MN KdoOpFü), das seit seiner Aufstellung 2013 auf EU-Aufgaben ausgerichtet war, in der Hochphase einer Zertifizierungsübung als Joint Task Force Headquarters für die NATO. Den Kern des MN KdoOpFü bildete damals wie heute ein deutscher Stab mit multinationaler Beteiligung für Einsätze im internationalen Krisenmanagement der EU. Vor allem bei Übungen war diese multinationale Beteiligung sehr groß, im Grundbetrieb jedoch eher schwach ausgeprägt.
Oftmals wurde die Sinnhaftigkeit des MN KdoOpFü von deutscher Seite hinterfragt und die Bestandsgarantie mehrfach in Zweifel gezogen: In Übungen hatte sich der Stab über Jahre hinweg in multinationaler Einbindung herausragend bewährt. Allerdings konnte sich das Kommando bislang im Einsatz nicht beweisen – eine Situation, die auch für Stäbe gilt, die nur für EU-Aufgaben vorgesehen sind. Dementsprechend kam oftmals die Frage auf, ob sich Deutschland überhaupt ein stehendes Hauptquartier der militärstrategischen Ebene als Beitrag zur Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU weiter leisten will. Dies war für mich die Ausgangsgrundlage.
Foto © MN KdoOpFü/Bastian Suepple
Nach der mehr als erfolgreichen Zertifizierung des Ulmer Kommandos für die NATO im Jahr 2018 fiel die Entscheidung der NATO, das Joint Support and Enabling Command (JSEC) in Ulm aufzustellen. Deutschland hatte sich gegenüber der NATO als Rahmennation verpflichtet, dieses NATO-Kommando – ursprünglich für die „Rear Area“ des SACEUR – zu etablieren. In der konzeptionellen Entwicklung der NATO wurde es in der Folge zu dem Kommandostab, der verantwortlich ist im gesamten Zuständigkeitsbereich der NATO in einer 360-Grad-Betrachtung für die Verlegungsprozesse aller Truppenteile zur Verstärkung in einem Übungs- oder Einsatzgebiet sowie für die logistische Beratung des SACEUR.
Somit hatte das JSEC eine völlig andere Ausgangslage als das MN KdoOpFü: Es war und ist noch immer ein Leuchtturmprojekt, das selbst ein Staatssekretär des Auswärtigen Amtes bei einer Berliner Sicherheitskonferenz vor drei Jahren als entscheidenden Beitrag Deutschlands für die NATO herausgestellt hatte – und dies in einer Zeit, als die sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen nicht weit entfernt waren von der aktuellen Situation. Das JSEC war am Anfang ein deutsches Kommando. Bis es den Status eines internationalen Hauptquartiers erreicht hatte, war es zwar ein kurzer, aber auch steiniger Weg, um den Aufbau zu realisieren. Wichtig war, dass das JSEC gerade in der Anfangsphase schnell in die NATO-Planungen, in die Konzeptlandschaft des SACEUR und die „Deterrence and Defence“ des euroatlantischen Raums mit eingebunden werden konnte. Das JSEC leistete also von Anfang an zusammen mit den anderen NATO-Hauptquartieren, die dem SACEUR ständig zugeordnet sind, einen wesentlichen Beitrag für die Konzeptentwicklung der NATO der Zukunft.
Was zunächst recht holprig begann, fügte sich mit deutscher Unterstützung gerade im Jahr 2021 zum Besseren: Wir kamen zu einem Vertragswerk mit den beteiligten Nationen, das JSEC wurde offiziell durch den Nordatlantikrat zum internationalen Hauptquartier ernannt, wir haben an einer Zertifizierungsübung und der größten NATO-Übung seit 2018 teilgenommen. Weiterhin konnten wir erfolgreich die Haushaltsverhandlungen mit den Nationen führen, das JSEC erhielt sein endgültiges „Mission Statement“ und schließlich wurde auch entschieden, das JSEC und das Logistikkommando der NATO, die Standing Joint Logistics Support Group (SJLSG), hier in Ulm strukturell und personell zusammenzuführen. Gerade die aktuelle politische Entwicklung in Europa zeigt, dass die Entscheidung zur Stärkung des JSEC der richtige Weg ist.
Mit der Entscheidung zur Anpassung des Mission Statements des JSEC vom ursprünglich vorgesehenen „Rear Area Command“ zum logistischen Berater des SACEUR und verantwortlichen Hauptquartier für den Verlegungsprozess der NATO-Kräfte im gesamten NATO-Gebiet wurde deutlich, dass die Bedeutung des JSEC als ein dem SACEUR ständig zugeordnetem Hauptquartier weiter gewachsen ist: Von Anfang an war das JSEC, vor allem für die USA, ein Schlüsselkommando für die Verlegung von Folge- und Verstärkungskräften. Durch die Entscheidung des Nordatlantikrats vom Februar 2022 ist das JSEC mit der Standing Joint Logistics Support Group auch verantwortlich für den Verlegungsprozess der Nato Response Force (NRF) und der Very High Readiness Joint Task Force (VJTF).
Eins darf man nicht vergessen: Das JSEC hat eine Schlüsselfunktion für die Verteidigungs-bereitschaft der NATO und ist für eine glaubwürdige Abschreckung mit dem Schwester-kommando, dem Joint Forces Command (JFC) in Norfolk, USA, elementar. Denn es geht um die schnelle Verlegung von NATO-Truppen an eventuelle Gefährdungspunkte, was gerade in der aktuellen politischen Situation in Europa entscheidend wichtig ist, vor allem, wenn man auf die Situation an der Ostflanke der NATO blickt. Das JSEC unternimmt alle denkbaren Anstrengungen, um den Erwartungen der NATO gerecht zu werden, denn – wie gesagt – es hat eine Schlüsselfunktion für die Verteidigungsbereitschaft der NATO und die Abschreckung.
Das MN KdoOpFü – ebenfalls wie das JSEC in der Ulmer Wilhelmsburgkaserne beheimatet – ist für das JSEC existenziell wichtig, um den Betrieb und die Einsatzbereitschaft zu gewährleisten: Vor allem die IT-Unterstützung des JSEC erfolgt aus dem MN KdoOpFü und sorgt dafür, dass die von Deutschland bereitgestellte IT des JSEC durchgängig einsatzbereit ist. Auch das erklärt, warum es so wichtig ist, dass beide Hauptquartiere einem Befehlshaber unterstellt sind.
An was erinnern Sie sich besonders gerne in dieser Zeit zurück? Auf welche Erfahrung hätten Sie lieber verzichtet?
Ich habe mich sehr darüber gefreut, dass es nicht nur gelang, beim Bundesministerium der Verteidigung und insbesondere beim Generalinspekteur das MN KdoOpFü als militärstrategisches Hauptquartier mit seiner einzigartigen Expertise für Deutschland und die EU erhalten zu können, sondern es darüber hinaus auch in Zukunftsüberlegungen, wie z.B. Planungskapazitäten für den Generalinspekteur, aber auch die Aufstellung des „Office for Military Mobility“ mit den Niederlanden, miteinzubeziehen. Es hat mich wirklich sehr gefreut, dieses zwar jetzt verkleinerte, aber aufwuchsfähige MN KdoOpFü für künftige Aufgaben erhalten und es neu auf EU-Aufgaben ausrichten zu können.
Was ich ein wenig enttäuschend fand, war, dass das Leuchtturmprojekt JSEC – abgesehen von einer herausragenden Unterstützung durch die Abteilung Führung Streitkräfte – verwaltungstechnisch und hinsichtlich seines Rechtsstatus immer wieder kämpfen musste, um Fortschritte zu machen. Das Erreichen des Vertragswerkes fand ich sehr strapaziös, das Erreichen eines Status als Internationales Hauptquartier hätte ich mir einfacher vorstellen können. Auch das Erreichen einer IT-basierten Arbeitsfähigkeit, so, wie wir sie heute haben, hätte ich mir einfacher vorstellen können. Das, was wir in Ulm an IT bereitgestellt haben, um uns verbindbar und kompatibel mit der NATO zu machen, gibt es in Deutschland nur einmal, nämlich hier bei uns. Darauf können nicht nur alle Mitarbeiter in den beiden Ulmer Hauptquartieren stolz sein, sondern auch Deutschland als Rahmennation für das JSEC. Ohne das Multinationale Kommando Operative Führung hätte das JSEC niemals aufgestellt werden können! Das meine ich mit der Aussage: Ein steiniger Weg, aber am Ende erfolgreich.
Was macht die Attraktivität des Dienens am Standort Ulm aus, insbesondere für den Führernachwuchs der Bundeswehr?
Aus gutem Grunde haben wir die Generalstabsausbildung vor Jahren von einem teilstreitkraftbezogenen auf einen streitkräftegemeinsamen Ansatz geändert. Im Hinblick auf Bündnis- und Landesverteidigung hat Deutschland eine herausragende Bedeutung als Drehscheibe in Europa. Wir integrieren unsere Streitkräfte im Rahmen der Bündnis- und Landesverteidigung in die NATO und unterstützen unsere Verbündeten in Deutschland bei Truppenverlegungen durch Deutschland. Unsere Soldatinnen und Soldaten können die Prozesse und Verfahren von NATO und EU in beiden multinationalen Kommandos in Ulm auf allen Verwendungsebenen erlernen. Diese beziehen sich vor allem auf das Miteinander der Soldaten und Soldatinnen aller Bereiche in einem multinationalen Umfeld. Wo kann man das sonst vergleichbar in Deutschland erfahren? Hier in Ulm kann man operative Planung erlernen und in die aktuelle Planungsarbeit der NATO oder der EU umsetzen.
Auf der anderen Seite gibt es nicht nur in Deutschland, sondern auch bei anderen Streitkräften in Europa ein Defizit in der operativen und militärstrategischen Planungskompetenz. Es gibt nicht viele Dienstposten und Kommandostäbe, in denen Bundeswehrangehörige ihre Planungs- und Führungskompetenz auf diesen Ebenen erweitern können. Vor allem das MN KdoOpFü bietet passende Verwendungsmöglichkeiten.
Als Fazit kann ich somit feststellen: Betrachtet man das vor allem das auf EU-Aufgaben ausgerichtete MN KdoOpFü in Kombination mit dem NATO-Kommando JSEC, so ist der Standort Ulm eine in der Bundeswehr einzigartige aus 27 Nationen bestehende multinationale Schnittstelle zwischen EU und NATO. An keinem anderen Standort in Deutschland haben wir so viel Multinationalität unter einem deutschen Befehlshaber.
„Time to say good bye“ – Und wie geht es für Sie weiter?
Ich habe die reguläre Altersgrenze erreicht, mit der ein General in den Ruhestand verabschiedet wird. Beide Kommandos haben gerade wichtige Meilensteine erreicht. Das ist daher ein guter Zeitpunkt für einen neuen Befehlshaber, die beiden Kommandos zu übernehmen. Es freut mich sehr, Generalleutnant Sollfrank diese beiden ausgezeichneten und höchst professionellen Hauptquartiere übergeben zu können.
In meinen persönlichen und familiären Planungen habe ich mich noch nicht festgelegt. Nach Jahren des Pendelns haben meine Frau und ich bewusst keinen festen Plan. Aber gerne will ich mich zukünftig stärker im sozialen Bereich engagieren. In den letzten zehn Jahren habe ich immer wieder Aktionen des Vereins „Lachen Helfen e.V.“ unterstützt, der seit über 25 Jahren notleidende Kinder überall im Ausland unterstützt, wo deutsche Bundeswehrangehörige und/ oder Polizeikräfte in Kriegs- und Konfliktgebieten im Einsatz sind. Schauen wir mal, was sich da eventuell ergibt …
Sehr geehrter Herr General, vielen Dank für das Gespräch und viel Glück auf Ihrem weiteren Lebensweg!