Interview mit Helmut Rauch, CEO Diehl Defence
Sehr geehrter Herr Rauch, vor einem Jahr überfiel Russland erneut die Ukraine. In den folgenden Monaten stellte sich die Notwendigkeit einer wirksamen Bodengebundenen Luftverteidigung (Ground-Based Air Defence, GBAD) eindrücklich unter Beweis. Vor welchen Herausforderungen standen Sie im Zusammenhang mit der Lieferung von IRIS-T SLM (Surface Launched Medium Range) an die Ukraine? Unsere Bodengebundenen Luftverteidigungssysteme, u. a. IRIS-T SLM, sind darauf ausgelegt, Infrastruktur, Gebäude und Personen am Boden gegen Bedrohungen aus der Luft zu schützen. Für diesen Zweck hatten wir bereits GBAD-Systeme an Exportkunden, beispielsweise in Skandinavien, geliefert. Mit der Lieferung von IRIS-T SLM haben wir nunmehr erstmals ein GBAD-System an einen Kunden geliefert, der unser Produkt sofort und unmittelbar im Verteidigungsfall anwendet. Wir haben mit Freude zur Kenntnis genommen, dass unser Produkt zur vollsten Zufriedenheit des Kunden seine Aufgaben erfüllt und eine bisher unübertroffene Erfolgsquote aufweist. Die Lieferung von IRIS-T SLM an die Ukraine im Jahr 2022 war eine sehr anspruchsvolle Aufgabe, weil sie im Vergleich zu einem regulären Beschaffungsprozess in Friedenszeiten erheblich zügiger abgewickelt werden musste und es dafür keine Blaupause gab. Es erforderte von unseren Mitarbeitern pragmatische und schnell umsetzbare Lösungen und eine enge Zusammenarbeit mit Ämtern und Behörden. Ich bin froh und stolz, dass wir diese industrielle, logistische und vertragliche Herausforderung in nur wenigen Monaten im gesetzten Rahmen – auch mit der Unterstützung der Bundesregierung – bewältigt haben.
Helmut Rauch (li.) stellte sich den Fragen von Burghard Lindhorst. (Foto © Diehl Defence/Voskuhl)
Die Verbesserung der materiellen Ausstattung der Bundeswehr durch das 100-Milliarden-Sondervermögen läuft an. Zwar noch nicht gleich, aber perspektivisch soll der Verteidigungshaushalt auf zwei Prozent des BIP anwachsen. Was bedeutet das für Ihr Unternehmen? Die Absichtserklärungen der Bundesregierung, der Bundeswehr das Sondervermögen zur Verfügung zustellen und die Zwei-Prozent-Verpflichtung der NATO gegenüber zu erfüllen, sind ein quantitativer Ausdruck der Zeitenwende, die Kanzler Scholz im Februar 2022 festgestellt hat. Für die Industrie stellt das nach vielen Jahren des Sparkurses in Deutschland, der an einigen Stellen übertrieben wurde, eine grundsätzliche Trendwende dar.
Live-Schuss des bodengebundenen Luftverteidigungssystems IRIS-T SLM (Foto © Diehl Defence)
Welche Anteile für die Beschaffung unserer Produkte dann schlussendlich umgesetzt werden, wird sich in den folgenden Monaten zeigen. Wichtig ist für die Industrie, eine Planungssicherheit zu haben, damit wir uns für den notwendigen Kapazitätsausbau oder zu Fähigkeitsforderungen mittel- und langfristig richtig aufstellen können. Für Diehl Defence kann ich sagen, dass wir mit unseren Produkten und Produktionskapazitäten für Munition, Flugkörper, Luftverteidigungssysteme und neue innovative Technologien im Bereich Hyperschall und Autonomen Systemen unseren Beitrag zur Ausstattung und Einsatzbereitschaft der deutschen Bundeswehr sehr gerne leisten.
IRIS-T Luft-Luft-Lenkflugkörper mit bildverarbeitendem Infrarot-Suchkopf von Diehl Defence (Foto © Diehl Defence)
Im März 2022 gab das russische Verteidigungsministerium bekannt, das hypersonische Kinschal-Raketensystem erfolgreich eingesetzt zu haben. Was bedeutet das für unsere Sicherheit? Die bislang eher fiktive Bedrohung durch hyperschallschnelle Flugkörper ist real geworden. Dies bedeutet grundlegend veränderte Anforderungen an die Landes- und Bündnisverteidigung. Die Abwehr von Hyperschall- Flugkörpern ist von besonderer Wichtigkeit. Diehl Defence hat sich dieser Aufgabe im Rahmen unterschiedlicher Vorhaben verschrieben. Seit mehr als 20 Jahren sind wir an Grundsatzstudien zu Luftverteidigungsarchitekturen inklusive Sensorsystem-, Führungssystem- und Abwehrsystem- Untersuchungen beteiligt. Durch konsequente Weiterentwicklung der IRIS-T-Produktfamilie neben der „konventionellen“ Bodengebundenen Luftverteidigung bietet Diehl Defence im System einen Flugkörper zur Abwehr von hypersonischen Bedrohungen an. Unser bereits bestehendes Know-how in den Bereichen Feuerleitsensorik und Flugkörper-Lenkteil-Technologie kommt uns hier zugute. Beim Systemdesign greifen wir einerseits auf verfügbare und bereits bewährte Komponenten zurück, um Systeme zeit- und kostengerecht zur Verfügung stellen zu können. Andererseits ergänzen wir das um neue Komponenten, wo veränderte Anforderungen dies bedingen. Der Abwehr-Lenkflugkörper ist zweistufig ausgelegt: Eine Unterstufe befördert die hochagile Oberstufe in die Flugbahn des gegnerischen hypersonischen Flugkörpers, um ihn dann punktgenau zu treffen.
Der HYDEF-Flugkörper (Foto © Diehl Defence)
Gegen die hypersonische Bedrohung verfügt die Oberstufe über modernste Zielsuchkopf-Sensoriken – eine Kombination aus Radar- und Multispektral-Infrarot- Suchkopf – sowie Lenk- und Steuerverfahren für die benötigte hohe Agilität und Treffergenauigkeit. Mit europäischen Partnern soll das Flugkörperkonzept IRIS-T HYDEF (Hypersonic Defence) sowie das Konzept für die zugehörige Hyperschallabwehrarchitektur im Rahmen des EDF-Vorhabens (Europäischer Verteidigungsfonds) „EU-HYDEF“ weiter nach vorne getrieben werden, um so eine kontinentale europäische Abwehrlösung gegen Hyperschallbedrohungen aufzubauen.
Diehl Defence „Layered Air Defence“-Konzept mit den Systemen IRIS-T SLS, SLM, SLX und HYDEF für unterschiedliche Reichweiten (Foto © Diehl Defence)
Ist IRIS-T auch wegweisend für die nächste Generation von Flugkörpern? Bevor wir in die Zukunft schauen, ein kurzer Blick zurück: In den 1990er-Jahren begann die Entwicklung der Luft- Luft-Lenkflugkörper IRIS-T, einer damals neuen Generation von Lenkflugkörpern, durch ein europäisches Konsortium aus sechs Nationen mit Diehl Defence als Generalunternehmer. Ein Highlight des Flugkörpers – damals wie heute – ist die bildverarbeitende Sucherbzw. die Infrarot-Technologie, ein Beitrag von Diehl Defence. Bis jetzt sind in dieser Variante Block 1 über 4.000 Stück IRIS-T gefertigt und ausgeliefert. Luftstreitkräfte von weltweit zwölf Kundenländern verlassen sich derzeit auf Fähigkeiten von IRIS-T. Der Basisflugkörper wird inkrementell weiterentwickelt und mit neuen Fähigkeiten in seiner ursprünglichen Luft-Luft- Rolle Maßstäbe setzen. Ab 2024 geht IRIS-T Block 2 in die Entwicklung. Ziel ist die Obsoleszenzbeseitigung und eine Leistungssteigerung mit neuen Fähigkeiten. Die neue Version wird absehbar marktverfügbar sein. Weiter folgende Blocks sind in der Diskussion, werden zusätzliche Leistungssteigerungen enthalten und zukünftige operationelle Anforderungen abdecken.
FCAAM (Future Combat Air-to-Air Missile): Lenkflugkörper für zukünftige Einsatzszenarien im Rahmen des Future Combat Air Systems (FCAS) (Foto Diehl Defence)
Neue Absatzmöglichkeiten ergeben sich darüber hinaus durch Integrationsaufträge für weitere Plattformen wie für das in der Entwicklung befindliche koreanische Kampfflugzeug KF-21 und FA-50. Nächster Quantensprung wird die Vernetzung der Lenkflugkörper mit anderen Komponenten eines Systems als Netzwerk innerhalb der Air Combat Cloud werden, also das Zusammenspiel mit Kampfflugzeugen der sechsten Generation wie dem New Generation Fighter sowie die Ausstattung der Software mit Künstlicher Intelligenz. Dies vereint der IRIS-T-Nachfolger FCAAM (Future Combat Air-to-Air Missile): ein moderner Luft-Luft-Lenkflugkörper für kurze bis mittlere Reichweite mit abgeänderter Form, um Low-Observable- Anforderungen gerecht zu werden. Wir leiten künftig erwartete erweiterte Fähigkeiten für den Luftkampf aus den FCAS-Szenarien ab und beziehen diese in die Entwicklung mit ein. Mit unseren vorhandenen Spitzentechnologien und deren Weiterentwicklung bieten wir die Möglichkeit, Zukunftsprojekte wie FCAS mit angemessener Leistungsfähigkeit auszustatten und das übergeordnete Ziel, die Luftüberlegenheit über zukünftige Gegner, insbesondere im Luft-Luft-Einsatz, herzustellen und zu erhalten. Darüber hinaus werden wir die IRIS-T-Produktfamilie, unsere Säule als Flugkörpersystemhaus, weiterentwickeln. Und für Bodengebundene Luftverteidigungssysteme mit einer großen Reichweite von bis zu 80 Kilometern und einer Höhenabdeckung bis zu 30 Kilometern wird der Flugkörper IRIS-T SLX entwickelt.
GenLt Ingo Gerhartz (v. r.), Inspekteur der Luftwaffe, bei der Demonstration des bodengebundenen Luftverteidigungssystems IRIS-T SLM am Diehl Defence Standort Röthenbach mit CEO Helmut Rauch und CPO Dr. Harald Buschek (Foto © Diehl Defence)
Damit sind wir wieder bei der Bodengebundenen Luftverteidigung … …denn die steht derzeit mit unseren Systemen, allen voran IRIS-T SLM, klar im Fokus. Neben der Erfüllung diverser Beauftragungen arbeitet Diehl Defence daran, das bestehende Portfolio von Systemen kurzer und mittlerer Reichweite um ein Produkt für das Segment großer Reichweiten zu ergänzen. Wir wollen unsere Stellung als Systemanbieter für Luftverteidigung festigen und zusätzliche Absatzpotenziale eröffnen. Bedingt durch die sicherheitspolitische Lage ist absehbar, dass der Markterfolg von Bodengebundenen Luftverteidigungssystemen das Wachstum von Diehl Defence in den kommenden Jahren maßgeblich treiben wird. Unsere Fähigkeiten und unser Know-how aus dem Bereich GBAD bringen wir auch im Rahmen der 2021 gegründeten ARGE NNbS (Nah- und Nächstbereichsschutz) ein, zusammen mit den Partnern Rheinmetall und HENSOLDT, um diese Fähigkeitslücke der Bundeswehr auf Basis von verfügbaren Komponenten risikoarm und zeitnah bereitstellen zu können. Aktivitäten in der Bodengebundenen Luftverteidigung werden dauerhafte Priorität haben, sowohl bei Weiterentwicklung größerer Reichweite wie IRIS-T SLX als auch bei Anwendung für NNbS.
Sehr geehrter Herr Rauch, vielen Dank für die aktuellen Informationen!