Mit Beginn des Jahres 2025 ist eine neue Dynamik in Bemühungen um ein Ende des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine durch eine Verhandlungslösung gekommen. Die Ukraine befindet sich seit ihrer weitgehend erfolglosen Gegenoffensive im Sommer 2023 aufgrund von weiter bestehendem Material-, zunehmend aber vor allem durch Personalmangel, in der strategischen Defensive. Russland rückt derzeit langsam und unter hohen Verlusten, aber beharrlich an nahezu allen Fronten vor. Gleichzeitig gab es bereits im vergangenen Frühjahr Vorhersagen von ukrainischer Seite, dass der Aggressor Anfang 2026 selbst an personelle und materielle Grenzen bei der Kriegsproduktion stoßen könnte.
Beide Seiten haben im vergangenen Jahr versucht, diese mittelfristigen Trends zu ihren Gunsten zu wenden. Die Ukraine hat sich mit ihrer Offensive gegen russisches Territorium in der Oblast Kursk ein politisches Faustpfand verschafft – auch um den Preis, dass die dabei eingesetzten Kräfte bei der Verteidigung des eigenen Gebiets fehlen. Russland hat nach der lange etablierten Beschaffung von Waffen und Munition von befreundeten Ländern wie dem Iran und Nordkorea mittlerweile auch nordkoreanische Truppen ins Land geholt. Diese werden insbesondere in der Region Kursk eingesetzt, um die rechtlich mögliche, aber innenpolitisch heikle Verwendung und größere Verluste von Wehrpflichtigen bei der Verteidigung und Rückeroberung eigenen Gebiets zu begrenzen.
Zeitrahmen und Interessen
Die gerade ins Amt gekommene Regierung Trump in den USA strebt weiterhin die möglichst schnelle Beendigung des Krieges an. Von „innerhalb 24 Stunden“, wie Präsident Donald Trump im Wahlkampf behauptete, ist dabei längst keine Rede mehr. Genannt werden selbst gesetzte Fristen von 100 Tagen bis sechs Monaten. Trump vertritt seit dem Pariser Treffen mit seinen französischen und ukrainischen Amtskollegen Emmanuel Macron und Wolodymyr Selenskyi Ende letzten Jahres die Haltung, dass letzterer zu einem „Deal“ bereit sei und sich nunmehr der russische Präsident Vladimir Putin bewegen müsse. Dazu hat er Putin gerade in gewohnt drastischer Manier aufgefordert und andernfalls mit weiter verschärften Sanktionen gegen Russland gedroht.
Die Interessen beider Seiten sind bekannt. Die Ukraine strebt möglichst die Rückgewinnung ihrer russisch besetzten Gebiete, auf jeden Fall aber den Stopp weiterer Verluste und insbesondere Sicherheitsgarantien gegen weitere Angriffe Russlands an, vorzugsweise durch eine NATO-Mitgliedschaft. Russland fordert die Anerkennung seiner Annexion der ukrainischen Oblaste Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson, von denen es die erste mittlerweile fast vollständig, die anderen drei aber nur zu etwa zwei Dritteln kontrolliert. Zudem müsse die Ukraine neutral – also keinesfalls NATO-Mitglied – werden, unter dem Stichpunkt „Demilitarisierung“ ihr militärisches Potenzial stark begrenzen und zur „Denazifizierung“ innenpolitische Reformen im Sinne Russlands durchführen.
Option auf Fortsetzung des Eroberungskrieges
Die russischen Forderungen lassen erkennbar die Option zu einer späteren Fortsetzung des Krieges offen, um etwa durch Eroberung der Schwarzmeerküste in der Region Odessa die Landbrücke zur russisch kontrollierten Region Transnistrien in der Republik Moldau zu vollenden. Putin muss auch Hoffnungen radikalerer Stimmen in Russland bedienen, die die Eingliederung des gesamten historischen Gebiets Novorossija – also die im 18. Jahrhundert russisch besiedelten Gegenden östlich des Dnipro einschließlich der Hauptstadt Kiew – oder gleich der gesamten Ukraine fordern. Das Einfrieren der aktuellen Frontlinie wäre ein Minimalkompromiss, dem er aber keinesfalls zustimmen kann, solange diese bei Kursk innerhalb Russlands verläuft.

Nach fünfmonatiger russischer Gegenoffensive hält die Ukraine dort gegenwärtig noch etwa 40 Prozent des ursprünglich von ihr besetzten Gebiets. Der genaue Umfang hat letztlich wenig Bedeutung, da Russland bei einem Waffenstillstand vor der vollständigen Rückeroberung auf jeden Fall überproportionale Zugeständnisse machen müsste, um es wieder zu erlangen. Das erklärt das verbissene ukrainische Festhalten, während russische Kräfte anderswo weiteres Territorium einnehmen. Es drängt zudem zur Eile bei einer Verhandlungslösung, bevor dieses Faustpfand auf dem Schlachtfeld verloren geht. Bei gegenwärtigem Verlauf sind die aus Trump-Kreisen genannten 100 Tage wahrscheinlich das Äußerste, bis sich das Zeitfenster hierfür schließt.
Derzeit kein russisches Interesse an einer Verhandlungslösung
Das ist vor allem deshalb äußerst ambitioniert, weil Russland kein Interesse an einer Verhandlungslösung haben kann, solange es auf dem Schlachtfeld weiterhin vorrückt. Ein mögliches Abflachen seines Offensivpotenzials im kommenden Jahr steht derzeit noch in den Sternen und könnte möglicherweise durch stärkere Zulieferungen von Verbündeten abgeschwächt werden. Hoffnungsvolle Stimmen wollen zwar erkennen, dass die ukrainische Kampagne gegen logistische Einrichtungen und Industrieziele im rückwärtigen russischen Gebiet – vor allem mit Drohnen aus eigener Produktion, die keinen westlichen Einsatzbeschränkungen unterliegen – mittlerweile Auswirkungen auf den gegnerischen Nachschub zeigt. Noch scheint Russland aber nicht unter Druck, sich mit dem bislang Erreichten zufrieden zu geben.
Nach allen bisherigen Erfahrungen werden auch weitere Sanktionen allein dies nicht ändern. Trump scheint zu glauben, dass ein Absenken des Ölpreises in Kooperation mit Saudi-Arabien den Krieg schnell beenden wird. Auch hat er angedeutet, dass China Teil der Lösung sein könnte – vermutlich, indem es im Rahmen eines großen Interessenausgleichs mit den USA über die gegenseitigen Handelsbeziehungen und weitere Punkte Druck auf Russland ausübt. Gerade ein mögliches Absinken des Ölpreises dürfte jedoch erst mittelfristig Auswirkungen auf die russische Kriegskasse haben. Will die Trump-Administration tatsächlich innerhalb von 100 Tagen zumindest einen Waffenstillstand herbeiführen, müsste sie die Ukraine zunächst befähigen, das weitere russische Vordringen innerhalb dieses Zeitraums zu stoppen.
Die Ukraine braucht dringend eine Perspektive
Das passt durchaus zu dem kolportierten Ansatz, einer verhandlungsunwilligen Seite entweder mit Streichung oder Erhöhung der amerikanischen Militärhilfe für die Ukraine zu drohen. Allerdings kann dies deren zunehmenden Personalmangel nicht ausgleichen. Berichten zufolge fordert daher auch Trumps Team mittlerweile von der Ukraine, das Einberufungsalter für Wehrpflichtige von derzeit 25 auf 18 Jahre herabzusetzen. Die ukrainische Regierung hat dies bislang aufgrund der ohnehin schwierigen demografischen Situation des Landes vermieden. Da das Altersband von 18 bis 24 Jahren zu den schwächsten gehört, befürchtet man bei größeren Verlusten erhebliche zusätzliche Auswirkungen auf die künftige Bevölkerungsentwicklung. Diese ist wie in allen osteuropäischen Ländern seit dem Ende des Kalten Krieges von Abwanderung, niedrigen Geburtenraten und Überalterung geprägt.
Die Ukraine hat neben den direkten Kriegsverlusten seit der russischen Vollinvasion zusätzlich enorme Bevölkerungsverluste durch Flucht ins Ausland erlitten. Diese stellen die wirtschaftliche Basis akut, aber auch für einen Wiederaufbau, und selbst das Fortbestehen als Nation selbst in Frage. Auch sie müsste also eine Perspektive auf rasche Beendigung des Krieges haben, um zu diesem buchstäblich letzten Mittel zu greifen. Zumal die Bevölkerung mittlerweile eine erkennbare Kriegsmüdigkeit zeigt und Berichte über Verweigerung der Einberufung und Desertionen in den Streitkräften zunehmen. Dazu könnte die verstärkte Lieferung von weitreichenden Präzisionswaffen und die Aufhebung von Beschränkungen zum Einsatz gegen russische Ziele gehören – übrigens auch durch Deutschland. Alle zusätzlich eingezogenen Truppen müssten ebenfalls ausgerüstet werden und würden den Großteil des 100-Tage-Fensters zur Ausbildung benötigen.

Verhandlungsgegenstände und Rückfallpositionen
In dieser Hinsicht hat Trump zumindest den Vorteil einer loyalen politischen Basis. Diese hat zwar bislang eifrig Ängste vor russischen Vergeltungsmaßnahmen bis hin zum Atomkrieg mit der NATO verbreitet. Sie wird aber eine harte Haltung gegen Putins Drohungen klaglos mittragen oder sogar bejubeln. Ein Stopp des weiteren russischen Vordringens, solange die Ukraine noch Gebiete bei Kursk kontrolliert, würde den Weg zu einer für diese vorteilhaften Verhandlungslösung öffnen, die Trump auch internationale Anerkennung einbringen würde. Mögliche Elemente wären ein Austausch besetzter Gebiete, Sicherheitsgarantien für die Ukraine und weitere Punkte für eine Nachkriegsordnung – allerdings nicht eine „Demilitarisierung“ und „Denazifizierung“. Letztere spielte nach ukrainischen Aussagen schon bei den erfolglosen Verhandlungen mit Russland im Frühjahr 2022 ohnehin keine Rolle.
Die Ukraine könnte als Anfangsposition einen vollständigen Verzicht auf eine NATO-Mitgliedschaft oder die Stationierung westlicher Truppen anbieten, wenn beide Seiten sich auf die Linien von vor 2022 zurückziehen – in dem sicheren Wissen, dass dies für Russland unannehmbar ist. Graduelle Rückfallpositionen wären beispielsweise ein NATO-Verzicht für 20 Jahre, wie aus Trumps Team ins Spiel gebracht, bei einem beiderseitigen Rückzug auf die Linien von vor 2023 – also nach der ukrainischen Rückgewinnung großer Gebiete im Herbst 2022. Sodann ein Verzicht für zehn Jahre, die ein Kandidat nach allen Erfahrungen ohnehin für einen NATO-Beitritt braucht, bei einem Rückzug auf die Linien von vor 2024. Das würde immer noch die geringen ukrainischen Gebietsgewinne im Sommer 2023 einschließen und die russischen Gewinne seither rückgängig machen.
Realistisch mögliche Ergebnisse
Realistischere Ergebnisse nach solchen Eröffnungszügen wären vermutlich der beiderseitige Rückzug hinter die Linien vor den wechselseitigen grenzüberschreitenden Offensiven im vergangenen Jahr: der russische Einfall Richtung Charkow und das ukrainische Vordringen Richtung Kursk. Auch ein Rückzug russischer Truppen aus der Oblast Charkiw hinter die Grenze der von Russland beanspruchten Region Luhansk und die Rückgabe von im vergangenen Jahr eroberten Gebieten weiter südlich – insbesondere von Awdijiwka Richtung Pokrowsk sowie bei Wuhledar in der Oblast Donezk – wären zu verhandeln. Als Zugeständnis könnte sich die Ukraine aus den kleinen noch von ihr gehaltenen Teilen der Oblast Luhansk zurückziehen, ohne die russische Herrschaft über diese wie auch alle anderen besetzten Gebiete offiziell anzuerkennen. Dies entspräche in vielerlei Hinsicht Lösungen während der deutschen Teilung.
Aus russischer Sicht wäre die vollständige Kontrolle über zumindest eines der vier annektierten Gebiete ein großer politischer Gewinn. Zusammen mit je zwei Dritteln der übrigen drei könnte Putins Resümee gegenüber der eigenen Bevölkerung lauten: „Drei von vier sind nicht schlecht“. Ob insbesondere die Stimmen, die noch weitergehende Annexionen fordern, dies als annehmbares Ergebnis von drei verlustreichen Kriegsjahren akzeptieren, ist natürlich fraglich. Zudem wäre diese Lösung zwingend durch weitgehende westliche Garantien bis hin zur Stationierung von NATO-Truppen in der Ukraine abzusichern, um Russland von einer späteren Wiederaufnahme des Angriffskrieges abzuschrecken. Insgesamt wäre dies für Putin noch immer ein hoher Preis, um das eigene Territorium bei Kursk wiederzuerlangen.
Zusätzliche Anreize
Vermutlich wären weitere Anreize positiver und negativer Art erforderlich. Dazu könnte etwa eine teilweise Aufhebung von Sanktionen gegen Russland gehören. Ein wenig beachteter Punkt ist die Nutzung der zu den besetzten ukrainischen Gebieten gehörenden Küstengewässer. Obwohl ohne konventionelle Marinekräfte, hat die Ukraine die russische Schwarzmeerflotte durch den Einsatz weitreichender Lenkwaffen sowie Luft- und Seedrohnen praktisch völlig aus dem Schwarzen Meer verdrängt und zur Aufgabe des Flottenstützpunktes Sewastopol gezwungen. Ironisch, da die Kontrolle dieses Hafens 2014 als ein Grund für die Besetzung der Halbinsel Krim angegeben wurde. Mittlerweile ist die Rolle der russischen Marine weitgehend auf den Start von Marschflugkörpern aus dem Asowschen Meer östlich der Krim oder sogar dem Kaspischen Meer beschränkt.
Die faktische Kontrolle der Schwarzmeergewässer durch die Ukraine bedeutet, dass Russland sich deren Nutzung nach einem Waffenstilland bei der Konfliktbeilegung erst wieder erhandeln müsste. Andernfalls könnte das Befahren der völkerrechtlich zur Ukraine gehörenden Territorialsee durch Schiffe unter russischer Flagge, jedenfalls aber Kriegsschiffe und andere Fahrzeuge im Staatsdienst, in einem Abkommen ausgeschlossen und durch internationale beziehungsweise westliche Marinekräfte überwacht werden. Dies beträfe auf jeden Fall die Küstengewässer der Krim im Schwarzen Meer einschließlich Sewastopols, möglicherweise auch im Asowschen Meer einschließlich der Nordküste um Mariupol. Wie sehr Putin die dortigen Landgewinne als Erfolg verkaufen könnte, wenn die Häfen nicht von russischen Schiffen angelaufen werden dürfen, ist zweifelhaft.
Zeit ist essenziell
Ähnliches gilt für den Luftverkehr über den besetzten Gebieten. Ohnehin wäre im Rahmen eines Waffenstillstandsabkommens über mögliche Pufferzonen zu verhandeln, in denen die Konfliktparteien beiderseits der Demarkationslinie Beschränkungen unterliegen und die eventuell von internationalen Truppen überwacht werden. Beispiele wären die Demilitarisierte Zone zwischen Nord- und Südkorea sowie die Sinai-Halbinsel seit dem Camp-David-Abkommen von 1978 zwischen Israel und Ägypten. Denkbar wären Ausdehnungen von wenigen Kilometer Tiefe bis hin zu entfernungsabhängigen Regelungen für den Ausschluss verschiedener Kategorien von Waffensystemen, etwa Raketenartillerie bis zu hundert Kilometern Reichweite und mehr. Solche Zonen müssten sich auch entlang der internationalen Grenze zwischen Russland und der Ukraine erstrecken. Ihre Ausgestaltung wäre als Teil eines Gesamtpakets gegenseitiger Forderungen zu betrachten.
Eine Verhandlungslösung zum relativen Vorteil der Ukraine würde schwieriger, wenn diese vor einem Waffenstillstand zum Rückzug von russischem Territorium gezwungen würde. Die Wahrscheinlichkeit hierzu steigt mit der Fortdauer des Konflikts unter den jetzigen Bedingungen. Unter Umständen käme es dann erst nächstes Jahr zum Kriegsende, wenn nicht noch später. Die genannten zusätzlichen Anreize blieben allerdings erhalten. Dennoch müsste die Ukraine im ungünstigsten Fall ein bloßes Einfrieren der Frontlinie hinnehmen, wie sie dann verläuft – vermutlich ausschließlich auf ihrem eigenen Territorium und noch weiter westlich als jetzt. Eine schnelle Lösung, für die die USA und Europa an einem Strang ziehen, möglicherweise unter Einbindung weiterer Parteien, ist daher essenziell.
Stefan Axel Boes