Interview mit Generalleutnant Michael Vetter, Abteilungsleiter Cyber- und Informationstechnik im BMVg
Herr General, vor welchen besonderen Herausforderungen, die zurzeit zeitkritisch gelöst werden müssen, stehen Sie und Ihr Verantwortungsbereich aktuell?
Wir sind mitten in der umfassenden und nachhaltigen Modernisierung unseres IT-Systems. Wir schaffen die Voraussetzungen, um durchgängige Informations- und Kommunikationsverbünde aufzubauen, die auf strategischer Ebene in Deutschland starten und sich dann möglichst bruchfrei bis auf die taktische Ebene im Einsatz durchziehen. Ein wesentliches Instrument, um diese Verbünde aufzubauen, sind die Programme und Projekte aus dem Bundeswehr-Sondervermögen. Insofern ist mit Blick auf eine zeitliche Priorisierung die Umsetzung dieser Programme und Projekte jetzt mit höchster Dringlichkeit voranzutreiben. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Umsetzung unserer Digitalisierungsplattform. Wir sind vor gut fünf Jahren damit gestartet, die Art und Weise, wie die Bundeswehr ITServices plant, beschafft und bereitstellt, zu ändern. In der Vergangenheit haben wir sehr stark individuelle Bedarfe aufgenommen und auf den spezifischen Bedarf hin ausgerichtete Lösungen entwickelt. Dabei wurde zu wenig darauf geachtet, ähnliche Bedarfe mit standardisierten und skalierbaren Lösungen zu erfüllen. Im Ergebnis ist ein System entstanden, das aus vielen, sogenannten „proprietären“ IT-Inseln besteht und erheblichen Aufwand in der Steuerung erzeugt.
Die Digitalisierungsplattform setzt hier an und zielt darauf ab, stärker standardisierte, wiederverwendbare, skalierbare und sichere IT-Services zu planen, bereitzustellen und zu betreiben. Die Digitalisierungsplattform ist mittlerweile gesetzt; sie ist Teil des PBN – also der neuen Rüstungsvorschrift A-1500/3 (Projektbezogene Bedarfsdeckung und Nutzung). Wir sind bereits im Wirkbetrieb. Jetzt geht es darum, nachhaltig und schnell IT-Services in die Bundeswehr einzuführen. Dies sind in zeitlicher Hinsicht die zwei kritischsten Themen. Neben diesen aktuellen Schwerpunkten müssen wir natürlich auch das sicherheitspolitische Umfeld betrachten, in dem wir mit der Digitalisierung agieren. Das sogenannte „Future Operating Environment“, also das zukünftige operative Umfeld, hat auch für uns erhebliche Herausforderungen. Hybridität ist hier eine beherrschende Linie und wir müssen Antworten auf die damit verbundenen Grauzonen finden. Wir haben es mit Staaten zu tun, die auf der einen Seite Partner sind, uns aber gleichzeitig als strategische Wettbewerber oder sogar Systemrivalen herausfordern. Sie können durchaus als unsere Gegner auftreten, wenn es beispielsweise um Desinformationskampagnen, Cyberangriffe, Spionage und Ähnliches geht. Dieses operative Umfeld wird zudem von einer Zeitenwende im technologischen Bereich begleitet. Der ehemalige amerikanische Generalstabschef General Milley spricht hier von seismischen Veränderungen im „Character of War“ – also der Art und Weise, wie Kriege geführt werden, die im Wesentlichen durch Technologie ausgelöst werden. Und wenn Sie sich diese Technologien anschauen, sind es hauptsächlich digitale Technologien: Cloud, Quantentechnologie und insbesondere Künstliche Intelligenz (KI). Darauf muss sich die Bundeswehr zügig ausrichten.
Informationstechnik und zunehmende Digitalisierung wirken in allen Bereichen der staatlichen Sicherheitsvorsorge. Welche besonderen Herausforderungen sehen Sie für die Streitkräfte in der gesamtstaatlichen Zusammenarbeit/Unterstützung in Frieden, Krise und Krieg?
Wir müssen konstatieren, dass Krieg in Europa leider wieder eine Realität ist. Wir erleben eine Nuklearrhetorik, die an die Hochzeit der Ost-West-Konfrontation erinnert. Gleichzeitig sind die Bedrohungen durch den internationalen Terrorismus und Extremismus weiter vorhanden. Zusätzlich sind wir mit Cyberbedrohungen und Desinformationskampagnen konfrontiert. Das findet alles gleichzeitig statt und es bedeutet, unsere klassische Unterscheidung zwischen Frieden, Krise und Krieg passt eigentlich nicht mehr und dies trifft auch auf die Trennung zwischen innerer und äußerer Sicherheit zu. Um diesen Herausforderungen Herr werden zu können, fordert die Nationale Sicherheitsstrategie konsequent integrierte Sicherheit ein. Ein wehrhafter Staat muss dafür sorgen, dass alle Elemente zusammenwirken. Das trifft im Bereich Digitales und Cyber ganz besonders zu. Der Cyber- und Informationsraum kennt keine Ländergrenzen; in ihm agieren unterschiedlichste Gruppen, sowohl staatliche Akteure, militärische Akteure, Geheimdienste, aber auch terroristische Gruppen und Kriminelle. Diese fordern uns tagtäglich heraus. Daher brauchen wir gerade in diesem Bereich das integrierte Zusammenwirken aller relevanten staatlichen Stellen.
Im Bereich Cyber sind es auf der Bundesebene im Wesentlichen drei Ministerien. Das Bundesinnenministerium, das die Federführung für den Bereich der Cyberabwehr hat. Das Auswärtige Amt für alle Fragen der Cyberdiplomatie. Und wir als BMVg betrachten natürlich die verteidigungsrelevanten Herausforderungen der Dimension Cyber- und Informationsraum. Als Bundeswehr betreiben und schützen wir unser IT-System. Darüber hinaus sind wir aber in die gesamtstaatliche Cybersicherheitsarchitektur eingebunden. Die große Herausforderung sind Cyberangriffe auf kritische Infrastrukturen, die sich in aller Regel mit nachhaltig negativen Folgen auf regionaler Ebene auswirken, denken Sie an Stromausfälle oder Shutdowns in Krankenhäusern. Die Verantwortung im Katastrophenfall liegt in Deutschland auf der Ebene der Landkreise. Die Herausforderung besteht nun darin, die gesamtstaatliche Cybersicherheitsarchitektur und die föderalen Verantwortungen im Katastrophenfall miteinander zu verbinden.
Das System muss im Ernstfall handlungs- und entscheidungsfähig sein und jeder Verantwortungsträger muss wissen, was er oder sie zu tun hat. Daher wird die in der Nationalen Sicherheitsstrategie referenzierte notwendige Weiterentwicklung der gesamtstaatlichen Cybersicherheitsarchitektur von uns mit vorangetrieben. Auf einen Cyberangriff kann man sich natürlich vorbereiten, indem man seine Systeme sicher und resilient macht. Findet ein Angriff statt, geht es darum, schnell zu agieren. Wichtig für uns ist, dass die Verfahrensabläufe klar sind, dass ein umfassendes Lagebild für alle Beteiligten vorhanden ist und dass wir über erprobte, eingeübte und im Einzelfall flexible Prozesse verfügen. Das ist ein ganz entscheidender Punkt.
Sind Sie mit den zuletzt getroffenen politischen Entscheidungen zur Struktur und den Aufgaben der Bundeswehr zufrieden oder gibt es in Ihrem Verantwortungsbereich bereits Nachsteuerungsbedarf?
Diese Entscheidungen sind ja nicht über uns hereingebrochen, sondern wir haben an diesen Entscheidungsprozessen ja aktiv mitgewirkt. Bezogen auf die Anpassungen im BMVg stelle ich fest, dass Rolle und Bedeutung der Abteilung CIT klar bestätigt worden ist. Meiner Abteilung wurde die federführende Verantwortung für alle KI-relevanten Themen übertragen. Das heißt, wir koordinieren innerhalb des BMVg alle Fragen im Zuge der Umsetzung von KI. Darüber hinaus ist die Digitalisierungsplattform als Methode zur Bereitstellung von IT-Services in der Nachfolgevorschrift des CPM, dem PBN, verankert worden und damit verbindlich anzuwenden. Das sind für mich ganz wesentliche Eckpunkte, auf denen wir aufsetzen können. In diesem Kontext wurde auch die Rolle des Chief Information Officer, also des CIO, des Geschäftsbereichs mit seinem eigenen Planungsportfolio bestätigt. Im nachgeordneten Bereich ist die Hervorhebung des Cyber-Informationsraums als Teilstreitkraft sicherlich ein ganz wesentlicher Schritt. Für mich ist das wichtig, weil wir damit allein über die Bezeichnung „Teilstreitkraft“ deutlich machen, dass der Cyber-Informationsraum genauso wichtig ist wie die traditionellen Dimensionen Land, Luft, See und die ebenfalls noch „junge“ Dimension Weltraum.
Gibt es Nachsteuerungsbedarf?
Den gibt es immer. Ich glaube, wir müssen uns von der Vorstellung verabschieden, dass wir einmal Strukturen reformieren und diese dann über lange Zeit unverändert fortbestehen. Organisationen müssen leben. Organisationen müssen sich auch auf äußere Einflüsse anpassen. Es wird und es darf auch keinen Stillstand in der Organisation geben. Insofern müssen wir uns alle darauf einstellen, mit Veränderungen, gegebenenfalls auch in kurzer Folge, gut umzugehen.
Gibt es etwas Akutes an Nachsteuerungsbedarf?
Aus meiner Sicht kommt es jetzt darauf an, alles das, was jetzt entschieden wurde, zur Wirkung zu bringen und mit Leben zu füllen. Wenn wir das tun, dann wird sich automatisch auch Nachsteuerungsbedarf ergeben, weil man eben nicht alles vorausdenken kann. Wir Soldaten sprechen hier zu Recht davon, dass man „in der Lage leben“ muss.