Zu den oft genannten Bereichen, in denen europäische NATO-Partner weitgehend von den USA abhängig sind, zählt die strategische, insbesondere die Satellitenaufklärung. Gerade erst berichtete die New York Times in bislang unbekannter Detailtiefe, wie sehr ukrainische Erfolge gegen die russischen Invasionstruppen von der Weitergabe amerikanischer Aufklärungsergebnisse quasi in Echtzeit bis auf die Verbandsebene abhingen. Entsprechend schwerwiegend war auch die vorübergehende Einstellung dieser Zusammenarbeit. Dies stellte für Europa die Zuverlässigkeit der USA als Bündnispartner überhaupt in Frage. Frankreich erklärte, mit eigenen Satellitendaten für die Ukraine einspringen zu wollen. Die Frage ist aber, inwieweit die Europäer einen völligen Ausfall der US-Versorgung kompensieren könnten. Sie lässt sich teilen in Aspekte von Quantität und Qualität.
Satellitenaufklärung war als Produkt von nationalen Raumfahrtprogrammen lange Zeit den globalen Großmächten vorbehalten. Noch heute verfügen die USA über den weitaus größten Anteil der Fähigkeiten. Mindestens fünf optische Aufklärungssatelliten bilden das Rückgrat, bei denen es sich um Weiterentwicklungen der seit den 1970er-Jahren eingesetzten Serie KH-11 Kennen handelt. Diese setzte damals neue Maßstäbe und verband hochauflösende optische Technologie, die ähnlich auch im Hubble-Weltraumteleskop zum Einsatz kommt, mit Echtzeit-Übertragungsfähigkeiten. Für letztere wurden zusätzliche Kommunikationssatelliten benötigt, um die Daten tatsächlich von jeder Position der Umlaufbahn auf amerikanischem Boden empfangen zu können. Das elektro-optische System war insgesamt ein großer Fortschritt über die ältere Methode, hochauflösende Filmaufnahmen mit Rückkehrkapseln abzuwerfen.
Abbildende Satellitenaufklärung
Die genaue optische Auflösung war ein streng gehütetes Geheimnis – bis ein von Donald Trump 2019 getwittertes Bild bestätigte, dass sie an der Grenze des durch Störungen der Erdatmosphäre möglichen Maximums von fünf bis zehn Zentimetern liegt. Das Erkennen von Autokennzeichen oder gar von Gesichtern wie im Film ist damit also nicht möglich. Allerdings wird in Branchenkreisen von chinesischen Vorhaben gesprochen, die Störungen herauszurechnen und genau dies zu ermöglichen. Dass dies auch in den USA versucht wird, kann vorausgesetzt werden. Die Geheimhaltung erstreckt sich jedoch sogar bis auf die Benennung der Satelliten. Dass neuere Typen unter Bezeichnungen wie KH-12 Misty und KH-13 laufen, wird offiziell nicht bestätigt. Die jüngste Ausführung, die angeblich über Stealth-Fähigkeiten verfügt, wurde als Enhanced Imaging System gehandelt.
Die abbildende Aufklärung im Bereich des sichtbaren Lichts und angrenzender Spektralbereiche wird ergänzt durch Satelliten mit Synthetic Aperture Radar (SAR). Diese haben den Vorteil, dass sie auch durch Wolken beobachten können, allerdings mit geringerer Auflösung. Die USA betreiben hiervon mindestens fünf mit der Bezeichnung Topaz, die ursprünglich unter dem Programmnamen Future Imagery Architecture als kombiniertes Optik-Radar-System geplant waren. Hinzu kommen mehrere Typen zur elektronischen Signalaufklärung: Mindestens zwei Satelliten zur passiven Radarerfassung unter dem Namen Mercury, das auch als White Cloud bekannte umfangreiche Naval Ocean Surveillance System zum Aufspüren von Schiffen durch deren Funk- und Radaremissionen, sowie zahlreiche Satelliten, die vermutlich vor allem dem Abhören von Kommunikationsverbindungen dienen.
Signalaufklärung und unterstützende Weltraum-Infrastruktur
Über letztere mit Namen wie Trumpet, Mentor oder Hornet ist noch weniger bekannt. Zumal sie aufgrund der gegenüber abbildenden Systemen mit ihren enormen Optiken meist geringeren Größe schwerer zu beobachten sind. Da selbst Informationen über ältere Typen eingestuft bleiben, kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass einige davon noch in Funktion sind. Damit könnten die USA potenziell auf über ein Dutzend Satelliten zurückgreifen, um Funk- und andere elektronische Signale abzufangen. Die primären Aufklärungssysteme werden weiterhin von einer großen Flotte mit unterstützenden Funktionen ergänzt: die erwähnten Kommunikationssatelliten, eigene Wetterbeobachtungssatelliten für den militärischen Bedarf, und die Navigationssatelliten des Global Positioning System. Besondere Bedeutung kommt den Frühwarnsatelliten zum Erkennen von Raketenstarts und nuklearen Explosionen zu.

Es ist vor allem diese weit ausgebaute, einander ergänzende Weltraum-Infrastruktur, die den quantitativen und qualitativen Vorsprung der USA ausmacht. Als – wenn auch eingeschränkte – Nutznießer dieser Fähigkeiten entwickelten die NATO-Partner lange Zeit nur im begrenzten Umfang ihre eigenen, nicht zuletzt wegen der hohen Kosten. Das galt besonders für Großbritannien, das als einzige Verbündeter amerikanische Satellitenbilder in höchster Auflösung erhielt. Andere konnten sich zumindest darauf verlassen, dass die gewonnenen Aufklärungsergebnisse in der Regel dem gemeinsamen Verteidigungsinteresse zugutekamen. Wenn auch nicht darauf, nicht selbst zum Aufklärungsziel zu werden, um im Zweifelsfall amerikanische Interessen gegen die von einzelnen Partnern zu unterstützen.
Europäische Militärprojekte
Das immer unabhängigkeitsbewusste Frankreich gehörte zu den ersten Ausnahmen, als es zwischen 1995 und 2009 zwei Paare eigener optischer Aufklärungssatelliten mit der Bezeichnung Helios startete. Sie beruhten auf der für Kartierungs- und wissenschaftliche Zwecke eingesetzten zivilen SPOT-Serie. Diese lieferte seit 1986 kommerziell verfügbare Bilder mit einer anfänglichen Auflösung von zehn Metern. Die Auflösung der ersten Helios-Generation betrug einen Meter, die der zweiten 35 Zentimeter, wobei letztere auch den Infrarotbereich erfassen konnte. Das entspricht etwa der Leistung der von den 1960er- bis 80er-Jahren eingesetzten amerikanischen KH-8 Gambit 3-Serie, deren Auflösung auf 28 bis 56 Zentimeter geschätzt wurde. Frankreich betrieb Helios ab 2002 im Verbund mit Belgien, Deutschland und Italien. Dabei liefert Deutschland Aufnahmen der 2007/08 gestarteten Radarsatelliten-Konstellation SAR-Lupe.
Diese fünf Satelliten mit einem relativ günstigen Systempreis von etwa 750 Millionen Euro konnten abbildende Radaraufnahmen von weniger als einem Meter Auflösung liefern. Italien steuerte weitere Radarbilder der zivil-militärischen Dual-use-Satelliten des COSMO-SkyMed-Programms mit ähnlicher Qualität bei. Seit 2007 wurden nach und nach sechs Stück gestartet. Die Serie soll fortgesetzt werden. Frankreich hat Helios zwischen 2018 und 2025 unter Beteiligung von Deutschland und der Schweiz durch die drei Satelliten der Composante Spatiale Optique mit ähnlicher Leistung abgelöst. Deutschland wollte SAR-Lupe, das seine geplante Lebensdauer bereits überschritten hat, durch die 2022/23 gestarteten drei SARah-Satelliten ersetzen. Von diesen kam es aber bei zweien zum Versagen beim Ausklappen der Sensorarme, so dass sie nicht in Betrieb gehen konnten.
Deutsche Planungen
Sobald der Manövertreibstoff bei SAR-Lupe endgültig aufgebraucht ist, wird das zu Einschränkungen beim deutschen Beitrag zu dem Aufklärungsverbund führen. Fraglich ist, ob die beiden defekten Satelliten – die nicht von der Bundeswehr übernommen wurden und im Besitz des Bremer Herstellers OHB bleiben – durch Nachbauten ersetzt werden können, oder angesichts der Verschlechterung im transatlantischen Verhältnis gleich das für 2034 geplante Nachfolgesystem vorgezogen werden kann. Im optischen Bereich will Deutschland zwischen 2025 und 2030 vier Satelliten des Global Electro Optical Reconnaissance System Germany (GEORG) starten, die dem Bundesnachrichtendienst eigene Aufklärungskapazitäten verschaffen sollen.

Grundsätzlich, so hieß es bereits bei einem Fachpanel mit Vertretern des Weltraumkommandos sowie des Kommandos Aufklärung und Wirkung der Bundeswehr auf der ILA Berlin 2024, sollte es im Sinne ausreichender Kapazitäten und ihrer ständigen Regeneration angesichts begrenzter Betriebszeiten Ziel sein, ab 2027 jedes Jahr einen neuen Satelliten in Dreierserien zu starten. Dazu gehören neben der optischen und Radaraufklärung auch die Fähigkeiten zur militärischen Kommunikation. Derzeit stehen dafür die beiden Einheiten SATCOMBw und ein militärischer Anteil an dem Kommunikationssatelliten Heinrich Hertz des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt zur Verfügung. Ab 2027 wird SATCOMBw durch zwei neue Satelliten auf die leistungsgesteigerte Stufe 3 gebracht.
Zivile und kommerzielle Dual-use-Möglichkeiten
Entscheidend bei den rein militärischen Lösungen ist die garantierte zeitkritische Verfügbarkeit für den Nutzer – bei multinationalen Programmen zumindest entsprechend der finanziellen Beteiligung. Dennoch können die erwähnten Dual-use-Möglichkeiten ziviler, zunehmend auch kommerzieller Systeme eine wichtige Rolle spielen. Vielleicht das beste Beispiel ist die Nutzung von Elon Musks Starlink-Konstellation, die weltweit verfügbare schnelle Internetverbindungen ermöglicht, für militärische Zwecke durch die Ukraine. Andererseits wirft gerade Musks Verflechtung mit der US-Regierung von Donald Trump und deren Behandlung der Ukraine Fragen nach der Zuverlässigkeit solcher Lösungen auf. Als mögliche Alternative wird das ähnliche Angebot des europäischen Unternehmens Eutelsat OneWeb diskutiert, das allerdings aufgrund einer kleineren Satellitenflotte geringere Kapazitäten bietet.
Mittlerweile bieten kommerzielle Betreiber selbst im Beobachtungsbereich ähnliche Leistungen wie die gegenwärtigen militärischen Satelliten Europas, und werden auch militärisch genutzt. Erst vergangene Woche erhielt der finnische Betreiber ICEYE, der ebenfalls die Ukraine mit Daten seiner 48 SAR-Mikrosatelliten im Auflösungsbereich von einem Meter beliefert, einen Auftrag zur Versorgung des NATO-Lagezentrums in Brüssel. Während die jüngsten optischen Beobachtungssatelliten der schon erwähnten SPOT-Serie noch eine Auflösung von 1,5 Metern haben, bietet die Zweierkonstellation Pléiades Neo von Airbus Defence and Space – zwei weitere Satelliten gingen bei einem Fehlstart verloren, Ersatz ist ab 2027 geplant – zwischen 20 und 35 Zentimeter. Auch die WorldView-Serie des amerikanischen Betreibers Maxar verbesserte sich von den ersten beiden zum dritten Exemplar von etwa 45 auf 30 Zentimeter.
Europäische Defizite und Lösungen
Beide Anbieter wurden ebenfalls in der Ukraine genutzt, wobei sich allerdings erneut Probleme kommerzieller Lösungen zeigten. Eine verdächtige zeitliche Nähe von einzelnen Aufträgen zu russischen Angriffen legt nahe, dass das Angebot mehr oder weniger verdeckt auch von der gegnerischen Seite in Anspruch genommen wurde. Die Trump-Administration wiederum suspendierte bei dem kürzlichen Embargo den Zugang ukrainischer Nutzer zu Bildern von Maxar. Diese Modelle können also eine mögliche Lücke bei eigenen europäischen Aufklärungsfähigkeiten nicht allein schließen. Allerdings zeigen sie, dass die Technologie für den überwiegenden Teil des Bedarfs zumindest im abbildenden Bereich verfügbar und leistbar ist. Das dürfte auch für den Kommunikationsbereich gelten. Dual-use von wissenschaftlichen Erdbeobachtungssatelliten kann zudem unterstützende Daten liefern.
Im Bereich der weltraumgestützten Signalaufklärung betreibt Frankreich die Dreierkonstellation CERES. Ansonsten scheint Europa ein Defizit gegenüber den enormen US-Fähigkeiten zu haben. Bei den Frühwarnfähigkeiten vor Raketenstarts konnte man sich bislang ebenfalls getrost auf die USA verlassen – was sich insbesondere dann ändern müsste, wenn letztere ihren nuklearen Schutzschirm für die NATO zurückziehen würden und die übrigen Verbündeten diesen ersetzen müssten. Das Schließen dieser Lücken würde Zeit und nicht wenig Geld erfordern. Die gute Nachricht: Das Rad müsste nicht neu erfunden werden, die technischen Fähigkeiten dürften weitgehend vorhanden sein, und was vor 40 Jahren für Nicht-Supermächte unbezahlbar war, wird heute sogar kommerziell betrieben. Wenn die Notwendigkeit also erwüchse, käme es nur noch auf den Willen an.
Stefan Axel Boes