Kaum war klar, dass die Wahlen in den USA Donald Trump als Präsident zurückbringen werden, brach in Berlin wie von vielen erwartet – und dann doch überraschend plötzlich – die von der Ampelkoalition getragene Bundesregierung auseinander. Ob Neuwahlen wie von Kanzler Olaf Scholz geplant Ende März oder wie von Oppositionsführer Friedrich Merz gefordert schon im Januar stattfinden werden, ist noch nicht klar. Jedenfalls stehen damit in den beiden wichtigsten NATO-Mitgliedsländern politische Neuausrichtungen, wenn nicht sogar Umbrüche bevor.
Angesichts der akuten sicherheitspolitischen Herausforderungen durch die Kriege in der Ukraine und Nahost kann man das als ungünstigen Zeitpunkt empfinden, oder als Chance für notwendige neue Dynamik in der Konfliktbewältigung begreifen. Von den beiden Wahlen wird die deutsche logischerweise größere Auswirkungen auf Deutschland haben. Die amerikanische wird aber wenig dahinter zurückstehen und zudem mehr Folgen für die gesamte NATO und das globale Sicherheitsgefüge nach sich ziehen.
Die Möglichkeit der Wiederwahl Trumps ist von den meisten Verantwortlichen in der NATO mit der Hoffnung betrachtet worden, dass dieser Kelch doch vorübergehen möge – seiner bekannt kritischen Haltung gegenüber dem Bündnis, der Unterstützung der Ukraine und amerikanischer Verbündeter insgesamt sowie seiner Schwäche für autoritäre Herrscher von Wladimir Putin bis Kim Jong-un wegen. An seinem Mandat durch die amerikanischen Wählerinnen und Wähler kann jedoch kein Zweifel bestehen. Nicht nur hat er noch einige Wahlmännerstimmen mehr gewonnen als 2016. Im Gegensatz zu damals hat er auch eine solide Mehrheit unter den Wählern selbst erhalten.
US-Wahlen bringen auch republikanische Kongressmehrheit
Diese haben seinen Republikanern zudem die Mehrheit im Senat verschafft, und werden sie auch aller Voraussicht nach im Repräsentantenhaus bestätigen. Dabei dürfte jedoch wie üblich bei amerikanischen Wahlen die Außen- und Sicherheitspolitik eine eher geringe Rolle gespielt haben. Wirtschaftliche Sorgen waren nach allen Befragungen wahlentscheidend für Wähler der Republikaner. Auch wenn da die populistischen Slogans „kein Geld für ausländische Kriege und Verbündete, die keinen gerechten Beitrag leisten, America first!“ sicherlich bei manchem verfangen haben.
Andererseits ist ebenfalls laut Umfragen selbst die Mehrheit der republikanischen Wähler eigentlich pro-ukrainisch eingestellt. Schon beim Versuch der Blockade weiterer Hilfen für die Ukraine im Repräsentantenhaus vor einigen Monaten änderten die Fraktionsführung und letztlich auch Trump ihre Haltung, weil zu viele Abgeordnete die Frage in ihre Wiederwahlchancen einkalkulieren mussten. Dasselbe gilt für die neue republikanische Mehrheit im Senat, der für außenpolitische Fragen erheblich wichtiger ist. Und der sich noch unter Joe Biden mit überparteilicher Mehrheit ein Mitspracherecht etwa bei einem möglichen Rückzug aus der NATO gesichert hat.
Kein Grund zur Sorge?
Die traditionell bündnisfreundliche Stimmung im Senat wird sich wahrscheinlich auch nach den Wahlen nicht ändern. Unter den Neuzugängen sind neben Isolationisten auf Trump-Linie wie Bernie Moreno aus Ohio, der sich selbst gegen zusätzliche Hilfen für Israel ausgesprochen hat, mindestens ebenso viele Moderate. Etwa der einst als Demokrat zum Gouverneur von West Virginia gewählte Jim Justice oder John Curtis aus Utah – die allerdings auch noch nicht durch außenpolitische Aussagen aufgefallen sind. Zudem wird mit dem ehemaligen CIA-Direktor und Außenminister der ersten Trump-Administration Mike Pompeo durchaus ein sicherheitspolitischer Falke als neuer Verteidigungsminister gehandelt.
Auch von den Verbündeten selbst muss Trump diesmal mit mehr Selbstbewusstsein rechnen als während seiner ersten Amtszeit. Damals standen die meisten von ihnen seinem „disruptivem“ Politikstil des „dealmaking“ ziemlich verdattert gegenüber. Heute wissen sie in etwa, was auf sie zukommt. Über entsprechende Vorbereitungen ist weniger bekannt geworden, als Kritikern lieb ist. Das liegt allerdings auch daran, dass man einen Sieg Trumps bei den Wahlen und seine Auswirkungen auf die NATO nicht beschreien und vielleicht auch noch Vorschub leisten wollte. Dennoch sind sie offensichtlich, von der multinationalen Vereinbarung zur Entwicklung europäischer Mittelstrecken-Flugkörper bis zur Erhöhung der NATO Minimum Capability Requirements an die Bündnispartner. Also kein Grund zur Sorge?
Beton im Getriebe der NATO
So ist es definitiv nicht. Als Präsident blieben Trump genug Möglichkeiten, nicht nur Sand, sondern ganze Betonladungen ins Getriebe zu kippen. Er könnte beispielsweise ankündigen, bei einem Angriff auf NATO-Partner keine militärische Hilfe zu leisten. Schließlich ist in Artikel 5 des NATO-Vertrags nur von „Maßnahmen, [die jede Vertragspartei] für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten“ die Rede. Das könnte theoretisch auch ein böser Brief an den Angreifer sein. Trump selbst hat schließlich schon behauptet, einmal gesagt zu haben dass er Russland sogar zum Angriff auf „säumige Zahler“ im Bündnis ermutigen würde.
Dass mittlerweile fast alle NATO-Partner das Ziel von zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts als Verteidigungsausgaben erreichen, dürfte ihn dabei nicht beeindrucken. Zu Trumps disruptiven Stil gehört schließlich auch, neue Forderungen zu erfinden und zu sagen: „Reden wir doch von drei oder vier Prozent.“ Womit er im Übrigen nach aktueller Lagebeurteilung nicht Unrecht hat – was aber für ihn eben nur Diskussionsprinzip unter Verwendung beliebiger Zahlen ist. Und gerade weil er letztlich Recht hat, dass die USA einen überproportionalen Beitrag zur gemeinsamen Sicherheit im Bündnis leisten, könnte er diesen in Alltag und Krise auf vielerlei Weise zu Verzögerung und Sabotage gemeinsamen Handelns bis hin zur Feststellung des Bündnisfalls nutzen.
Sind die Europäer vorbereitet?
Am wenigsten war in Europa über mögliche Alternativen zu hören, falls die USA ihren nuklearen Schutzschirm für die NATO zurückziehen würden. Doch das Geflüster hinter den Kulissen war zumindest laut genug um zu wissen, dass Gespräche mit den beiden Nuklearmächten Frankreich und Großbritannien dazu geführt wurden. Man möchte also gerne annehmen, dass die Verbündeten wenigstens theoretisch auf die Herausforderungen einer neuen Trump-Präsidentschaft vorbereitet sind. Und auch auf wahrscheinliche Querschießer in den eigenen Reihen wie den ungarischen Regierungschef Viktor Orbán oder seinen slowakischen Kollegen Robert Fico.
Hinsichtlich der Ukraine dürfte auch Trump kein Interesse daran haben, auf internationaler Bühne als schwach dazustehen, falls Putin seinen „Deal“ zur Beendigung des Krieges ablehnt oder dieser allzu offensichtlich zugunsten Russlands ausfällt. Hier haben ebenfalls die Verbündeten ein Wort mitzureden. Auch wenn die USA größter Einzelunterstützer der Ukraine bleiben, ist der beschlossene Umfang der europäischen Hilfe nach nominellem Wert doppelt so hoch. Bei jeglicher Drohung gegenüber den Konfliktparteien, Verhandlungen wechselweise durch Einstellen oder enorme Steigerung der Unterstützung für die Ukraine zu erzwingen, wie aus Trumps Umfeld vorgeschlagen, müssten die Europäer mitziehen.
Und damit zu Deutschland
Gerade der Versuch, Wolodymir Selenskyj so zur Quasi-Kapitulation zu zwingen, liefe gegen die unmittelbaren Sicherheitsinteressen der ukrainischen und russischen Nachbarn. Nach allen Forderungen Trumps, dass die NATO-Partner mehr für Verteidigung ausgeben sollten, kann er sie jetzt schwer darum bitten, ihre Hilfe für die Ukraine ebenfalls zu stoppen, damit sein Deal funktioniert. Im Sinne seines transaktionellen Ansatzes von Politik müsste die Antwort darauf dann lauten: „Und was kriegen wir dafür von Dir?“ Da wären Trumps Aussichten besser, ein Berichten zufolge ebenfalls von ihm verlangtes Ende des Gazakrieges gegenüber Israel durchzusetzen, das sehr viel abhängiger von amerikanischer Unterstützung allein ist. Dabei würden ihn viele Verbündete wohl sogar unterstützen.
Voraussetzung für ein möglichst erfolgreiches Agieren Europas wäre dabei natürlich weitgehende Geschlossenheit. Von den üblichen Querschießern mal abgesehen, dürfen sich gerade die führenden Volkswirtschaften und Sicherheitspartner nicht auseinanderdividieren lassen. Das erfordert starke Führung auf allen Seiten. Und damit sind wir bei den bevorstehenden Wahlen in Deutschland. Nach den letzten fast drei Jahren unter Ukrainekriegsbedingungen dürfte die Meinung in der sicherheitspolitischen Community vorherrschen, dass der Kollaps der Ampelkoalition vor allem Verbesserungschancen bietet. Auch wenn man zugleich warnen möchte: schlimmer geht immer.
Wahlen nach Zahlen
Allein nach den aktuellen Umfragezahlen dürfte der nächste Bundeskanzler Friedrich Merz heißen, der dann die Wahl zwischen der SPD und – weniger wahrscheinlich – den Grünen als Koalitionspartner hätte. Nun sollten bekanntlich nach damaliger Meinung die letzten Wahlen zwischen Armin Laschet und Annalena Baerbock entschieden werden; am Ende wurde es dann Olaf Scholz. Gerade hat auch Robert Habeck sich trotz bescheidener Umfragewerte für die Grünen zum Kanzlerkandidaten erklärt. Vielleicht schafft es zudem die FDP nach dem Koalitionsbruch wieder, Mehrheitsbeschaffer zu werden. Und obwohl es unwahrscheinlich ist, dass sich die Ergebnisse der kürzlichen ostdeutschen Landtagswahlen auf Bundesebene wiederholen, gibt es ja auch noch das Pro-Putin-Lager aus AfD und BSW.
Ob Friedrich Merz Kanzler kann, geschweige denn es in der jetzigen Lage besser machen würde als Olaf Scholz, ob er mit Donald Trump so gut oder besser umgehen kann als – Achtung, Treppenwitz der Weltgeschichte – damals Angela Merkel, müsste er nach erfolgreich bestandenen Wahlen erst noch beweisen. Nicht alles aus der Kanzlerschaft Scholz müsste weggeworfen und neu erfunden werden. In einer möglichen weiteren Großen Koalition wäre es sogar denkbar, den jetzigen Verteidigungsminister auf seinem Posten zu belassen, wenn nachgewiesene Qualifikation, Kontinuität auf dem Weg zur Kriegstüchtigkeit und Sicherheitsinteressen des Landes wirklich über Lagerdenken, Proporz und persönliche Karriereambitionen gestellt würden.
Sicherlich fände sich in der Union jemand, der dann zur Wahrung der traditionellen Ressortverteilung zwischen Koalitionspartnern erstmals seit Gerhard Schröder in den 60er Jahren konservativer Außenminister würde. Angesichts der möglichen Gesprächspartner – auf amerikanischer Seite vielleicht der ehemalige Berliner US-Botschafter Richard Grenell – fiele einem da der eine oder andere Kandidat ein. Doch bevor auch nur ein Termin, geschweige denn das Ergebnis der kommenden Wahlen feststeht, sind das ungelegte Eier. Die Hoffnung bleibt, dass sich die handelnden Personen des Ernstes der Lage bewusst sind, entsprechend vorbereitet sind und ihrer Verantwortung gerecht werden.
Stefan Axel Boes